Die ganze Welt auf einer Plastikfolie

Radio Bremen, den Stern und andere hat's schon erwischt, jetzt gibt auch die FAZ auf: Ein voraus eilender Rückblick auf die Entwicklung des Internet und anderer Medien von  ■ Christoph Köster (Text) und Nikolai Wolff (Foto)

Erdzeit 2008. Auf dem Linopaper erscheint meine Morgenzeitung. Die Demokratische Partei kürt Hillary Rodham Clinton mit großer Mehrheit zur ersten Präsidentschaftskandidatin in der Geschichte der USA. Das meldet die Deutsche Presseagentur. Die Newsweek Online trägt ein Feature über die politische Lage in China ein Jahr nach Einführung des Zwei-Parteiensystems zu meiner digitalen Zeitung bei. Ich bräuchte nur mit dem Leuchtstift auf das große „L“ unten rechts auf der Seite zu klicken, und nach einem kurzen Flimmern der Buchstaben würde dank des Langenscheidt Simultan-Programms anstelle des englischen Originaltextes die deutsche Übersetzung stehen. Doch China interessiert mich jetzt nicht. Ich habe meine Präferenzen bei der Nachrichtenauswahl nicht auf „Politik“, sondern auf „Media“ eingestellt. Und deshalb ist in meiner Morgenzeitung, die sich wie Papier anfühlt, aber tatsächlich ein Bogen Plastik ist, eine Geschichte der Aufmacher, die bei meinen auf Boulevardthemen abonnierten Nachbarn nur eine Randnotiz wäre:

Frankfurt am Main (ap) – Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) stellt mit der nächsten Samstagsausgabe ihr Erscheinen ein. Die Rettungskampagne der letzten zwei Monate blieb ohne Erfolg, hieß es in einer Erklärung der Herausgeber. Die verbliebenen 200 Redakteure würden mit großzügiger Hilfe der Euroagentur für Arbeit in Nürnberg ins Programm „Jobs 2010“ aufgenommen. Der Alterspräsident des Schriftstellerverbands VSE, Martin Walser, kommentierte die Entscheidung der Herausgeber mit Bedauern. Dagegen erklärte der ehemalige FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher gegenüber ap, dass er schon seit Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt habe. Die Auflage der FAZ ist seit 2000 kontinuierlich gesunken und betrug zuletzt nur noch 180.000 Exemplare. Das Ausbleiben der Stellenanzeigen hat zu Millionenverlusten geführt. Doch nach Einschätzung von Analysten hat erst die Weigerung der Herausgeber, in den Linopaper-Medien-Verbund einzutreten, dem Verlag das Rückgrat gebrochen.

Jetzt kann man im Internet Geld verdienen

Die gute alte FAZ, denke ich und erinnere mich noch genau daran, wie diese Zeitung es im Jahr 2000 schaffte, sich dauernd ins Gespräch zu bringen. Das menschliche Genom war damals gerade entschlüsselt, das Klonen menschlicher Stammzellen war in der Diskussion, und das Internet entwickelte sich zu einem Massenmedium. Mit einem unterschwelligen Fortschrittsoptimismus, wie es ihn seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr gegeben hatte, berichtete die FAZ über diese Themen.

Aus heutiger Sicht kann man den FAZ-Herausgebern nicht mal einen Vorwurf machen. Schließlich hat es auch andere Zeitungen erwischt. Den Stern, den Playboy oder die Berliner Zeitung gibt es nicht mehr. Fast alle Stadtillustrierten haben ihr Erscheinen eingestellt. Manche Redaktionen fanden bei lokalen Netzportalfirmen Arbeit. Die Frankfurter Rundschau, heute eine Lokalzeitung ohne jede überregionale Bedeutung, hat den Konkurs nur durch ein Lohnmoratorium in der Print-Redaktion abwenden können. Und die notorisch klamme „tageszeitung“ taz gibt es nur noch, weil sie seit 2003 als Übungsredaktion von der Bertelsmann-Medien-Stiftung finanziert wird.

In den vergangenen Jahren hat es in der Medienbranche riesige Umwälzungen gegeben. Verantwortlich dafür sind das Internet und die mit der rasanten Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre eingeführten neuen Technologien. Man benutzt das Wort Internet heute noch immer, doch inzwischen sind unter diesem Namen elektronische und Print-Medien sowie die Telefonsysteme vereint.

Seit der EU-weiten Einführung des NetiCents im Jahr 2003 können Medienkonzerne und Verlage mit dem Anbieten von Informationen im Internet Geld verdienen – für manche Informationsbroker und Online-Ableger von Zeitungsverlagen hat sich das lange Warten gelohnt. Die Käufer bezahlen mit der monatlichen Medienabrechnung.

Die durchschnittlichen Medienausgaben haben sich kaum verändert. Denn schließlich wurden nach jahrlangem Streit zwischen der EU-Kommission und der Bundesregierung sowie einem Urteil des Obersten Euro-Gerichtshofes in Den Haag die Rundfunkgebühren in Deutschland ersatzlos abgeschafft, was wiederum die öffentlich-rechtichen Sender von ARD und ZDF vor erhebliche Probleme stellte. Als Grundversorgung gelten seit dem Urteil nur noch Nachrichten – diese Leistung wird aus Steuermitteln, der so genannten NewsTax, finanziert. Für Kulturprogramme wurde nach französischem Vorbild eine Bundesstiftung und eine freiwillige Steuer eingeführt. Alles Weitere müssen ARD und ZDF im Pay-on-Demand-Verfahren anbieten: Wer etwas nutzt, zahlt auch dafür. Doch seit die Nachrichtenagenturen im Agenturverbund eigene Radio- und Fernsehkanäle betreiben, rechnen Beobachter mit einer erneuten Klage gegen die öffentlich-rechtlichen Anstalten und die NewsTax.

In drei Minuten wird die Lektüre „gedruckt“

Damals, im Jahr 2000, als der ehemalige FAZ-Mitherausgeber und Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher Wissenschaft für viel spannender hielt als Theater oder Kino, war das Internet eigentlich kaum mehr als ein Hobby für Millionen. Doch während der ehemalige Tennis-Profi Boris Becker in Werbespots für AOL noch den naiven Netzneuling spielte, wurden schon die Grundsteine für die spätere Entwicklung gelegt. Die Firmen Heidelberger, Sony, IBM und andere lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen in der Entwicklung der E-Papers, also der wiederaufladbaren Zeitungsfolien. Zugleich einigten sich die vier führenden Stromkonzerne auf einen Standard bei den neuen Breitbandnetzen, die den Datentransfer im Vergleich zu den damals üblichen ISDN-Leitungen um das 1.024-fache beschleunigten. Das führte zu der lang erwarteten Verschmelzung von Internet und Fernsehen mit großen Folgen für beide Medien – und vor allem für die Telekom, die zu lange an der ISDN-Technologie fest hielt.

Der heutige Mensch ist bei der Mediennutzung ein Zwitterwesen. Einerseits will er nach wie vor unterhalten und informiert werden. Das setzt die Tätigkeit von Redaktionen voraus, die ihrem Publikum aus der Flut von Informationen ein Angebot zusammenstellen. Andererseits sind die MedienkonsumentInnen viel stärker als früher auch ihre eigene Redakteure und wählen sich bei Bedarf die gewünschten Medien aus. Dabei kann es sich um Wohnungs- und Stellenangebote, die neue MP3.5-Remix-Plattform des immer noch sehr innovativen Musikers David Bowie oder um das neue lokale Kinoprogramm handeln.

Wegen dieses Zwittercharakters gibt es heute genauso wenig ein typisches Verhalten bei der Mediennutzung wie vor zehn Jahren. Für viele Menschen beginnt der Tag nach wie vor mit dem Einschalten des Radios oder des Fernsehers – wobei die Palette von Musiksendern über Nachrichtenprogramme bis zum Boulevard-Kanal Brisant-Media des ehemaligen Mitteldeutschen Rundfunks mdr reicht und alle Daten aus ein und der selben Leitung kommen.

Eine weitere große Gruppe, zu der auch ich gehöre, ist die der ehemaligen Zeitungsleser. Ich habe den Linopaper-Medienverbund abonniert, zu dem sich der Spiegel, Bertelsmann, Holtzbrinck inklusive der Zeit, die Washington Post, der New Yorker und andere zusammengeschlossen haben. Während ich morgens im Bad die neuesten Nachrichten im Radio höre, läuft der Download meines Linopapers. Ein Knopfdruck oder das ins Mikrofon gesprochene Kommando „print“ löst den Vorgang aus. In nur drei Minuten wird meine Frühstückslektüre „gedruckt“. Wenn ich mal besonders in Eile bin und schnell einen Zug erreichen muss, kann ich mir die Zeitung auch vorlesen lassen. Dafür speichere ich die Audiofassung einfach auf meinem Handy ab, das als Minicomputer die Eigenschaften von Radio, Walkman, Telefon und Organizer vereint.

Der Vorteil des Linopaper-Verbunds gegenüber „Bild Dir eine“ und einem lokalen Infotainer wie dem Nord-West-Kurier: Ich kann nach Wunsch selbst bestimmen, über welche Themengebiete ich mehr erfahren will und über welche weniger. Bei mir gehören Medieninformationen zu den Schwerpunkten sowie die satirische und freche „Wahrheit“ der taz. Der Nachteil: Das Angebot an lokalen Informationen ist sehr beschränkt.

Deshalb hat der Nord-West-Kurier in der Region Bremen-Oldenburg die größte Verbreitung. Er sieht auch im digitalen Foliendruck aus wie eine normale Lokalzeitung, die allerdings in Bremen über Bremen und in Oldenburg über Oldenburg berichtet. Selbst die gedruckte Fassung wird weiterhin produziert, weil trotz der Kostensteigerung vor allem ältere Menschen nicht auf ihre Morgenzeitung auf Papier verzichten wollen. Doch im Vergleich zu der Zeit vor der großen Medienrevolution fehlen viele vertraute Elemente: Sämtliche Stellen-, Kontakt-, Wohnungs- und sonstige Rubrikenanzeigen sind verschwunden. Die großen Job-, Love- und Housing-Robots, an denen regionale Verlage oft beteiligt sind, haben diesen Markt erobert und bieten die Inserate in Online-Foren oder im Folienausdruck an.

Sozusagen als Parallelwelt zu den Pay-on-Demand-Angeboten hat sich auch das Freenet rasant entwickelt. Es ist die große Tauschbörse des Internet. Finanziert durch Werbung, sind hier alle möglichen Informationen, Bilder, Filme und Musikstücke gratis zu bekommen. Allerdings sind Nachrichten in diesem Bereich des Netzes alles andere als zuverlässig, weshalb viele Menschen nicht auf einen der Pay-on-Demand-Dienste verzichten. Im Freenet sind neben seinen anarchischen Archiven und Bibliotheken auch die Free-Speech-Kanäle zu finden. Es sind offene Diskussionsrunden, die von altertümlich wirkenden Textforen bis zu Live-Videokonferenzen reichen. Ich logge mich in den Journalistenclub ein. Natürlich ist heute das Ende der FAZ Thema Nummer eins. Unter dem Motto „Deutschland braucht die Zeitung für Deutschland“ steht der Aufruf einer Initiative „FAZ muß weiterleben“. Am nächsten Donnerstag um 20 Uhr soll die Gründungsversammlung stattfinden – im Konferenzkanal 311. Doch statt Anmeldungen erntet die Initiative hämische Kommentare in Frakturschrift.

Dann wird es laut. Es ist ein Geräusch, das ich nicht identifizeren kann. Ich spüre eine lauwarme Flüssigkeit im Gesicht und öffne die Augen. Die Kaffeetasse ist umgefallen. Der Inhalt hat sich über den Tisch ergossen, auf dem ich eingeschlafen war. Auch der Brief direkt vor meiner Nase ist nass. Es ist eine Rechnung der FAZ. Das Datum: 11. Januar 2001.