Die Internationale gibt es als Rap-Version

Über den sozialistischen Prachtboulevard Berlins zogen gestern 10.000 Menschen zur Gedenkstätte der Sozialisten. Die üblichen Parolen wurden diesmal musikalisch verjüngt. Die Reaktion der Polizeibeamten blieb altbacken

Anne Behr ist nicht das erste Mal in Berlin. Die Dänin kennt sich gut aus, hat sogar einige Jahre hier gelebt. Aber sie ist das erste Mal auf der Gedenkdemonstration für Karl Liebkecht und Rosa Luxemburg.

Um zehn Uhr hat sie sich mit etwa 10.000 anderen Menschen am Frankfurter Tor in Berlin-Friedrichshain eingefunden. Von hier aus geht es zur Gedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde, wo die PDS zum „stillen Gedenken“ aufgerufen hat. Den überwiegend Jugendlichen, die teilweise sogar aus dem Ausland angereist sind, ist das nicht radikal genug.

Viele der Teilnehmer tragen Transparente und Schilder mit den üblichen Parolen: „Die sozialistischen Arbeitführer Rosa und Karl sind lebendig“, „Für echten Sozialismus“, „Ami go home“, „Nie wieder Leitkultur“ und „Für die Abschaffung aller Knäste“. Dazu Musik, eine Rap-Version der Internationale wird gespielt, und viele rote Fahnen.

Auch wenn es an der jugendlichen Übermacht auf der Demonstration keinen Zweifel gibt, eine Ausnahmeerscheinung ist die 63-jährige Anne Behr keineswegs. Unter den vielen wehenden roten Fahnen haben sich auch ältere Menschen versammelt, um gemeinsam zur Gedenkstätte zu laufen. „Ich habe in meinem bisherigen Leben schon viele Wochenenden auf Demonstrationen verbracht“, sagt Behr nicht ohne Stolz.

Doch bevor die engagierte ältere Dame erneut demonstrieren kann, haben ihre jüngeren Mitmarschierer Ärger mit der Polizei: Eine Person wird brutal festgenommen. Als Reaktion fliegen vereinzelt Feuerwerkskörper. Die Stimmung ist angespannt, als sich der Zug kurz nach zehn in Bewegung setzt.

Die Demonstration ist nicht nur Liebknecht und Luxemburg gewidmet. Es geht um politische Visionen und um konkrete Kämpfe. Türkische Demonstranten haben Fotos von bei den Häftlingsunruhen im Dezember Umgekommenen dabei, um ihnen zu gedenken. Auch Behr geht es um das aktuelle Geschehen: „Das hier ist auch ein Zeichen gegen Rechtsextremismus und den Sozialabbau.“ Als sie vor dem Fall der Mauer noch selbst in Berlin wohnte, lebte sie zwar im Westteil der Stadt, mittlerweile aber hat sie viele Bekannte in den Ostbezirken. Und daher weiß sie: „Dass es die vielen sozialen Errungenschaften der DDR und das Gefühl als Gesellschaft für etwas Gemeinsames zu kämpfen nicht mehr gibt, ist ein großes Problem.“

Nur Deutschlands Kummerthema, der Rinderwahnsinn, spielt hier keine Rolle, stattdessen richten sich einige Demonstranten gegen den „Marktwahnsinn“ – und gegen „die Kapitalisten“. „Sie töten für Profite“, heißt es. Für den tierischen Wahnsinn fühlt sich hier und heute allein die Polizei zuständig. Vor einem Einkaufszentrum entlang der Demonstrationsroute hat sie eine Reihe wie verrückt kläffender Polizeihunde postiert, keine fünf Meter weiter lassen zwei Dienstpferde ihren Bedürfnissen freien Lauf: Das Pflaster der Frankfurter Allee, der seit DDR-Zeiten von sozialistischen Plattenbauten gesäumten Vorzeigemeile, ziert Pferdemist.

Behr kann sich noch erinnern, wie es damals war – zu DDR-Zeiten. „Auf dieser Demonstration hat alles angefangen, so Mitte der Achtzigerjahre, als sich der Protest gegen die Staatsführung formierte.“ Die Parole von damals, das Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, hängt heute am Lautsprecherwagen in der ersten Reihe.

Wie damals die Staatssicherheit marschieren heute die Einsatzhundertschaften am Rande auf. Mindestens 50 Vermummte wollen sie in der Demonstration gesichtet haben und diese dingfest machen. Von den angeblichen Vermummten ist aber keine Spur mehr. Nur einen machen sie ausfindig: Ein junger Mann, der bei 5 Grad unter null eine Wollmütze trägt und seinen Schal bis zur Oberlippe hochgezogen hat.

Verärgert reden die Demo-Teilnehmer, teilweise mit roten Nelken in der Hand, auf die Uniformierten ein: „Warum versucht ihr, zu provozieren?“ und „Zieht euch gefälligst zurück – oder habt ihr etwa auch eine Demo angemeldet?“, heißt es. Ohne Erfolg. Noch zweimal stürmt die Polizei boxend in den Demonstrationszug.

Unterdessen erzählt Anne Behr, was ihr beim Gedenken an Luxemburg und Liebknecht besonders wichtig ist: „deren eindrucksvolles Lebenswerk“. Und dass die beiden ermordet wurden – von „Handlagern der Regierung“. DIRK HEMPEL