Achtzehn sein in Peking

aus Peking GEORG BLUME
und JOHANN VOLLMER

1. Der Rikschafahrer

Wang Ke müsste schlechter aussehen. Denn von der ersten Fahrt im Pekinger Morgengrauen, wenn die Bauern auf die Märkte der Stadt strömen, bis zur letzten Sauftour am Abend, wenn die Kunden aus den Karaokebars torkeln, muss der schmächtige Landjunge Stunde um Stunde in die Pedale seiner Rikscha treten. Mao hätte es ihm verboten. Unter dem Großen Steuermann waren die Fahrradtaxis der Kolonialherren aus den Straßen Pekings verbannt. Jetzt sind sie wieder da – und mit ihnen die arbeitende Jugend vom Lande, die sich in der Hauptstadt nach einem neuen Leben umschaut.

Wang Ke strampelt zwölf Stunden für einen Tageslohn von umgerechnet zehn Mark. Der Junge aus der Provinz Jiangsu am großen Jangtse-Fluß ist so klein, wirkt so zart, dass sein Geschäft nach Kinderarbeit schmeckt. Doch wehe dem, der ihm das sagt. „Ich habe einen freien Beruf. Keiner gibt mir Befehle“, ereifert sich der stolze Rikschabesitzer und erzählt seine Geschichte. Wie er mit fünfzehn Jahren die Schule verließ und einfach von zu Hause weglief. Das war im Flecken Lianyungang, einem Reisbauerndorf, wo die Lehrer ihre Schüler noch mit dem Stock schlugen. Wang Ke rebellierte. Die Eltern waren hilflos. Sie sahen schwarz für seine Zukunft. „Meine Eltern haben nichts mehr von mir erwartet“, lacht Wang Ke und lässt seine Rikschaklingel durch die Gassen des Arbeiterstadtteils schallen. „Umso überraschter waren sie, als ich ihnen zum ersten Mal Geld aus Peking schicken konnte.“

So weit hat es Wang Ke immerhin schon gebracht: Was er heute in einem Jahr verdient, hat sein Vater auf dem Land sein Leben lang nicht in der Kasse gehabt. Es hört sich an wie ein amerikanisches Immigrantenmärchen des 19. Jahrhunderts: wie Wang Ke zunächst bei einem Bäcker in der Hauptstadt unterkam und Fladenbrot knetete. Das war die Zeit, in der die Landsleute aus Jiangsu dem armen Jungen halfen, ihm eine Unterkunft beschafften und durch die ersten, harten Wochen brachten. Little Jiangsu in Peking bot Schutz wie einst Little Italy in Manhatten. Inzwischen aber bezahlt Wang Ke umgerechnet hundert Mark Monatsmiete für sein erstes eigenes Zimmer. Hier, in einem Altbau der Fünfzigerjahre, hat er Wasseranschluss, den es im Dorf nie gab, und einen kleinen, gebrauchten Schwarzweißfernseher. „Wenn ich nicht arbeite, schaue ich Fernsehen“, sagt Wang Ke, als handele es sich um einen Luxus. Doch ihm fehlen im eiskalten nordchinesischen Winter Herd und Heizung. Wang Ke ist in Peking allein und ohne Familie. Er sehnt sich nach einer Freundin.

Wie ihm ergeht es heute annähernd fünfzig Millionen chinesischen Jugendlichen, die sich im Alter zwischen 15 und 25 Jahren als Wanderarbeiter auf die Socken gemacht haben – hinter sich Dorf und Familie im jahrhundertealten Trott, vor sich Großstadt und Anonymität einer instabilen Moderne. Dort erwartet sie kein grenzenloses Amerika wie einst die Immigranten des 19. Jahrhunderts, sondern ein übervölkertes China, in dem der Kampf um das bisschen Wohlstand täglich härter wird.

2. Der Schulaussteiger

Wu Kai ist mit dem ersten aufblühenden Wohlstand aufgewachsen. Als er 1982 als Kind von Fabrikarbeitern in Peking zur Welt kam, stand der Kleine Steuermann Deng Xiaoping kurz vorm Höhepunkt seiner Macht. Deng öffnete damals ein jahrzehntelang verschlossenes China zur Welt, und Wu Kai ist durch und durch ein Kind dieser Öffnung.

Sein täglicher selbst gewählter Standort ist das Kentucky-Fried-Chicken-Restaurant neben dem Arbeiterkrankenhaus. Wu Kai fällt auf. Nicht wegen des knalligen T-Shirts und der Schlackerjeans – das tragen heute alle Stadtjugendlichen. Aber Wu Kais lange, rot gefärbte Haare ziehen die Blicke der Gleichaltrigen an. Wer kann sich so einen Auftritt schon leisten? Nur ein Schulaussteiger. „Ich hatte keine Lust mehr auf die Berufsschule“, erzählt er achselzuckend. Nach der regulären Mittelschule, die bis zum neunten und letzten Pflichtschuljahr geht, hatte der schlechte Notendurchschnitt ihm keine Wahl gelassen: Er wurde der Berufsschule für Buchhaltung zugeteilt. Das passte ihm nicht. Lieber wollte er die Nacht am Computer verbringen und tagsüber schlafen. Die Eltern warnten ihren einzigen Sohn, dass er nach einer abgebrochenen Schullaufbahn nirgends eine weiterführende Ausbildung erhalten würde. Sie drohten, ihn rauszuschmeißen. Doch Wu Kai setzte sich durch und wohnt weiterhin bei den Eltern. Jetzt führt er ein angenehmes Leben.

Wu Kai hat viele Freundinnen – schließlich sieht er gut aus und hat als Schulaussteiger Mut bewiesen. Sex ist für ihn kein Tabu wie für andere. Frauenemanzipation findet er „in Ordnung“, „aber wenn ein Mädchen schwanger ist, gehört es zur Abtreibung ins Krankenhaus.“ Locker soll das klingen. Dabei gibt es in China bis heute keinen Aufklärungsunterricht, der den Namen verdient.

Abends spielt Wu Kai gern Billard. Dann steigt er hinab in die Kellerbars der Stadt, wo nicht nur brave Berufsschüler verkehren, sondern Bandenbosse und Prostituierte. Aber er hat keine Angst. Er würde gern Schauspieler werden, liebt Arnold Schwarzenegger und die Backstreet Boys und sagt: „Ich mag Amerika, wo man protestieren darf und ausdrücken kann, was man will.“ Wie aber will er mit dieser Einstellung im kommunistischen China erwachsen werden?

So wie Wu Kai suchen heute die meisten Jugendlichen in Chinas Großstädten nach ein bisschen Sinn und Freiheit im Leben. Die politischen Proteste der Vergangenheit, ob Kulturrevolution oder Demokratiebewegung, sind in ihrer Erinnerung verblasst. Schnell erobern sie sich neue kulturelle Ausdrucksweisen: Musik aus Japan, Mode aus Südkorea, Sexidole aus Amerika wecken Begeisterung – und Illusionen. Denn wie lässt sich modernes Lebensgefühl ausleben, wenn Schulen immer noch den Haarschnitt vorschreiben, der Eintritt in die Disko unbezahlbar bleibt und Intimität nur auf der Parkbank Raum hat? „In unserer Generation verändert sich etwas“, bemerkt Wu Kai, „aber die Gesellschaft verändert sich nicht mit.“ Das zeugt von einem Jugendgefühl, wie es in China nie zuvor existiert hat. Jugend war zuvor nichts als Arbeit. Aber es ist noch kein Bewusstsein, das wirklich etwas verändert.

3. Der Eliteschüler

Zhao Peng haben andere motiviert. Der Sohn ehrgeiziger Eltern – sie Ärztin, er Unternehmer – war auf seine Generation nie angewiesen. Im Gegenteil, er wollte sie übertreffen. Von einer Begabtenklasse zur nächsten katapultierte sich der Hochbegabte mit 16 Jahren in die beste Universität des Landes, die Peking-Universität, wo er heute mit 18 Jahren im vierten Semester Mathematik studiert.

Das war seit den Zeiten von Konfuzius ein Vorzug des chinesischen Bildungssystems: Nur die Besten wurden Mandarine. So konnte das Land über Jahrhunderte seiner staatlichen Elite vertrauen. Erst Mao zerstörte das System, das jetzt wieder aufgebaut wird – mit Jugendlichen wie Zhao Peng. „Ich hatte harte Konkurrenz, und es gab keine bevorzugte Förderung“, berichtet der ewige Klassenbeste. „Kein Lehrer hatte Zeit, sich um Einzelne zu kümmern.“ In Nike-Pullover und Jogginghose wirkt Zhao Peng wie ein braver, aufgeschwemmter Teddybär. Doch in ihm steckt ein offener Geist. Er genießt die geistige Freiheit an der Uni, hat zugleich Kritik am Prüfungssystem, spricht über Aids und Kondome und nennt als seinen Lieblingsfilm „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni.

Hat wenigstens der Eliteschüler ein klares Lebensziel? Zhao Peng antwortet steif: „Weil sich die Gesellschaft so schnell entwickelt, kann man auch sein eigenes Ziel nicht festlegen.“ Das klingt einstudiert, aber es trifft die Situation. Wang Ke, Wu Kai und Zhao Peng haben ihr Leben noch vor sich. Ihre Wege sind so offen wie Chinas Zukunft im neuen Jahrhundert.