Am Ende bleibt ein Echo

Dienstbeginn um sechs, laden ab sieben, fertig um zehn: Der „Besenrein“-Service entsorgt innerhalb weniger Stunden die Überreste eines ganzen Lebens

aus Berlin KATHARINA BORN

„Laubenpieper“, sagt Hermann Schulze* (60), als die Männer in orangefarbener Kluft und Handschuhen den Keller seiner Eltern ausräumen. Über Jahrzehnte angesammelter Vorrat, Ersatzklobrillen und, für alle Fälle, die Originalverpackung des 89er Grundig Stereo Supercolor – der große Mann mit der ergrauten Schmalzlocke steht mit hängenden Schultern in den staubigen Resten und entschuldigt sich immer wieder: „Mein Vater konnte alles gebrauchen für den Garten“, sagt Schulze, Bauleiter im Vorruhestand. Vier ungeöffnete Familienpackungen Persil, Bretter, Werkzeug, Regale voller Einmachgläser: „Birnen“, „Pflaumen“, „Apfelmus“ steht in altmodisch geschwungener Handschrift auf den Etiketten und „Rumtopf 82“.

Am 16. November starb, neunzigjährig, sieben Jahre nach ihrem Mann, Johanna Schulze. Ihr Sohn Hermann hat die Berliner Stadtreinigungswerke (BSR) mit der Wohnungsräumung beauftragt. Nun entsorgen drei Männer in zweieinhalb Stunden Arbeit, was sich während dreißig Jahren in der kleinen Zweizimmerwohnung, 3. Stock, Theodor-Francke-Straße in Berlin-Tempelhof angesammelt hat.

Den Keller hat Hermann Schulze nicht einmal mehr durchgeschaut. Das war ihm zu viel. Zuerst hat er noch versucht, die Sachen aus der Wohnung loszuwerden. Wäscheschleuder, Kühltruhe, automatischer Kirschentkerner – geschenkt wollten es die Leute zwar, aber abholen nicht. Allen Freunden und Arbeitskollegen hat er einen Klodeckel vorbeigebracht, „das wurde schon peinlich“. Und trotzdem bleiben noch ein halbes Dutzend für das Gebrauchtwarenhaus der BSR in Berlin-Mitte.

Brummend stehen die zwei Lastwagen im noch halbdunklen Hof der 30er-Jahre-Wohnanlage. Um sechs ist Dienstbeginn, ab sieben dürfen die Müllmänner laden, um zehn sind sie laut Plan schon wieder weg. Jedes der drei Teams räumt pro Tag eine Wohnung. „Ne, das nich!“, ruft Harry Sach (35), als sein Kollege Peter Schönebeck (35) ein leicht lädiertes Nierentischchen auf den Lkw für die „schonende Abfuhr“ stellt. Schönebeck wirft es in die Wanne des Presswagens und betätigt den Hebel. Das Müllmaul öffnet sich, Kleiderbügel, Töpfe, zerbrochenes Glas aus einem anderen Leben fallen durcheinander. Das Sperrholz wird erfasst, ins Innere des riesigen Wagens gezogen und zerdrückt.

Hermann Schulze stottert ein wenig, als er den Teppichklopfer in die Hand nimmt. „Jeden Freitag wurde geklopft unten im Hof“, sagt er. „Und sonntags gab es das gute Geschirr. Heute lacht man darüber. Aber das war so.“ Seine Mutter sei immer rüstig gewesen. Sie habe so gern in der Loggia gesessen, in dem Plastiksessel von der Enkelin, und in den Volkspark geschaut. Im letzten Jahr hat Schulze sie pflegen müssen. Er schnaubt in ein Taschentuch. Schönebeck und Sach tragen die Couch hinaus. Groschen und Quittungszettel kommen darunter hervor. Am Sessel steckt ein Kassenzettel: „Gekauft 1973“. Im Gebrauchtwarenhaus der BSR wird die gut erhaltene Garnitur schnell weggehen. „Auf der Couch waren immer Schondecken“, Schulze gelingt ein schiefes Lachen. „Mit Jeans durfte ich mich da um Gottes willen nicht draufsetzen. Blau färbt ab, hat sie immer gesagt.“

Am schlimmsten ist es, untätig zuzusehen. Deshalb legt Hermann Schulze lieber selbst mit Hand an, reißt die grünen Teppichfliesen aus dem Flur, auch wenn die Männer in Orange das nicht gern sehen. Im Wohnzimmer zerschlägt Harry Sach mit einer Schranktür den letzten Rest der Schrankwand in Nussbaumfurnier. „Rückwand raus und einmal gegengetreten. Das war es dann“, kommentiert Schulze. Die Müllpresse will er lieber nicht sehen. Die Männer der BSR halten ihn trotzdem für gefasst. Manchmal müssen die Sperrmüllexperten den weinenden Hinterbliebenen tröstende Worte sagen. „Wenn das irgendwie eskaliert, können wir die Arbeit vergessen“, sagt Marko Stoves (30), während er eine Zimmerpflanze und ein Einkaufswägelchen in der Presse verschwinden lässt. „Unsere eigene Spannung entlädt sich größtenteils über blöde Witze“, sagt Harry Sach. Und die gehen meistens auf Kosten von Peter „das Rückgrat“ Schönebeck. „Unseren Besten Mann“ nennen ihn Marko Stoves und Harry Sach, ein eingeschworenes Team – und überlassen ihm die schwersten Schränke.

Anfangs war es schlimm, sagen die Müllmänner. Viele Alte müssen aus ihrer Wohnung raus, in ein Altersheim. Erben kratzen sich an Ort und Stelle gegenseitig die Augen aus. Manchmal ist noch zu sehen, wo der Tote gelegen hat. Der Verwesungsgestank sei unerträglich. Nach über zehn Jahren Sperrmüll haben die drei fast alles erlebt. „Irgendwann wird es ’ne ganz gewöhnliche Arbeit“, meint Harry Sach. Die „Besenrein“-Zentrale unterscheidet nur noch zwischen angenehmer und unangenehmer Arbeit. In den allermeisten Fällen angenehm. Von der Wohnung letzten Sommer jedoch, in der eine junge Frau jahrelang knietief im Hausmüll gelebt hatte, reden die Männer heute noch.

Inge Biesbach* (59) öffnet dem BSR-Kundenberater die Tür in der Tegeler Gorkistraße. Noch im Flur will sie wissen, „wie das alles denn vonstatten gehen“ soll, unterbricht dann den ersten Satz des Kundenberaters sofort mit ihren eigenen Überlegungen zu Kleiderspenden und Hilfsorganisationen. Dann bittet sie Frank Nicolaus (37) in die Stube ihrer vor einem Vierteljahr verstorbenen Tante Lisbeth Berthold*.

Am runden Tisch im Wohnzimmer schreibt Inge Biesbach genau auf, was der Kundenberater sagt. „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“, erklärt Frank Nicolaus das System „Besenrein“ aus Mülldeponie (kostet) und Gebrauchtwarenhaus (kostet nicht). Aber Inge Biesbach unterbricht ihn bei jedem Buch, jeder Vase, jedem Teller mit der Anmerkung, sie sei sich nicht sicher, ob „die Erben“ nicht doch noch Anspruch darauf erheben würden. Frank Nicolaus schnaubt hörbar. Das bleibe alles ihr überlassen, nur könne er in diesem Fall natürlich keine genaue Preispauschale veranschlagen.

Was in der Küche steht, sei die „zweite Garnitur“, sagt Frank Nicolaus, während er die Schranktüren der kleinen 50er-Jahre-Küche aufreißt und wieder zuschlägt. Die werde im Allgemeinen als Schrott eingestuft. „Mit so ollen Tassen kann nach unseren Erfahrungswerten keiner mehr was anfangen.“ Er blickt sich um. „Genauso, wie kein Mensch noch was mit privaten Dias anfangen kann.“ Inge Biesbach zuckt zusammen, als er auf den Schrank voller Bilder vom Urlaub in Österreich, von Familienfesten und aufwachsenden Kindern zeigt.

Was im Wohnzimmer steht, fährt Frank Nicolaus etwas tröstlicher fort, sei meist „erste Garnitur“: Sammeltassen, das gute Geschirr, die gerahmten Bilder. „Der Einfachheit halber nennen wir es ‚Nippes‘ “. Jetzt schnaubt Inge Biesbach hörbar. „Ich verstehe ein bisschen was von Antiquitäten“, sagt sie voller Misstrauen. „Und ‚Nippes‘ ist das nicht.“ Frank Nicolaus erklärt ein wenig aufgebracht noch einmal das Müllvermeidungskonzept der BSR. „Wir sind keine Krämer, die etwas, was Ihnen gehört, teuer verkaufen wollen. Wenn Sie für irgendetwas hier eine bessere Verwendung haben, bitte.“

Später sagt Nicolaus: „Wir versuchen hier nur, für die Mülldeponien geradezustehen. Bei uns landet kein Fernseher im Wald.“ Vom Straßenfeger der BSR hat er sich zum Kraftfahrer und in zwölf Jahren bis zur Sperrmüllabfuhr hochgearbeitet. Als dann seine Knie „hin“ waren, wurde er Kundenberater beim Besenrein-Service – wegen seiner „sensiblen Art“.

Frank Nicolaus musste erst einmal eine Beratung abbrechen, die außer Kontrolle geraten war. Manche Kunden wollen Geld für ihre Möbel, andere erwarten Dankbarkeit, die meisten sind einfach nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt wie Inge Biesbach. Zuletzt habe die alzheimerkranke Tante sie kaum noch erkannt. Jetzt müsse sie sich ganz allein um alles kümmern. Die Erblage sei sehr kompliziert und die Tochter der Tante noch bis Mitte des Monats verreist. „Ich will es gerne allen recht machen“, sagt Inge Biesbach, „aber ich bin selbst krank. Das übersteigt meine Kräfte.“ Als er die Wohnung mit einem vorläufigen Räumungstermin in der Hand verlässt, atmet Frank Nicolaus auf. „Wenn alle Kunden wie diese wären, würde ich den Job hinschmeißen.“

Im Hof der Theodor-Francke-Straße legt das Räumkommando gegen zehn Uhr eine letzte Zigarettenpause ein. Der Fall Schulze ist ein angenehmer. Der Keller war vielleicht ein bisschen staubig. Das meiste hatte der Sohn aber selbst demontiert und verpackt. Da musste nur noch der Teppichboden rausgerissen werden.

Hermann Schulze wirkt jetzt sehr müde, als er durch die leeren Räume geht. „Hier stand das Ehebett, rechts und links waren die Schränke“, sagt er im Schlafzimmer. „Nachttisch, Kommode, die Stehlampe, später war hier nur noch das Krankenbett.“ Er fegt die Teppichbodenreste von den dunklen Dielen, auf denen die Umrisse des elterlichen Schlafzimmers sich hell abzeichnen. „Wenn du älter wirst, fragst du dich irgendwann: Wofür lebst du eigentlich?“ Das Auto, die Wohnung, die neue Couchgarnitur? Schulzes Stimme hallt in dem leeren Zimmer. Wie es der Kundenberater der BSR versprochen hat: „Am Ende bleibt nur noch ein Echo.“

* Namen geändert