50 Minuten Overkill

Sex zwischen zerstörten Blechgehäusen: Phillip Adams' Stück „Amplification“ auf Kampnagel  ■ Von Annette Stiekele

Er ist sicherlich keiner, dem die Schwiegereltern im Wohnzimmer sofort einen Sessel anbieten. Der Choreograph Phillip Adams ist eher einer, der die schlimmsten Befürchtungen des Normalbürgers noch übertrifft. Den IndepenDance Days 2001, Wegweiser in Sachen internationaler Tanzavantgarde, verhilft der Australier heute mit seiner Formation BalletLab zu einem weiteren Höhepunkt. Adams feiert auf Kampnagel die Deutschlandpremiere seines neuen Stückes Amplification. Mit klassischer Choreographie hat das, auch wenn technisch auf höchstem Niveau, natürlich nichts mehr zu tun.

Adams spielt hier mit einem besonderen Zugang zur Gewaltdarstellung, sucht die Provokation mit apokalyptischen Visionen. Nicht erst seit den Schriften des Marquis de Sade ist Gewalt und speziell die Verbindung von Gewalteinwirkung mit Erotik ein faszinierendes Thema in der Kunst. Wie reagiert der menschliche Körper auf physische Gewalt? Und was passiert, wenn aus Schmerz plötzlich Lust wird? Für Adams sind Phänomene wie Begräbnis, Folter, Autounfall oder sadomasochistische Rituale durchaus erotisch besetzt, ähnlich den skurrilen Bilderphantasien, die der Filmregisseur David Cronenberg einst in seiner Verfilmung von J.G. Ballards Crash entwickelte. Autounfälle, Stahl und Metall und dazwischen Menschen, die sich auf jede erdenkliche Weise lieben. Auf der Bühne spielt Adams mit diesen Phänomenen, mit „Auto-Erotik“, Autos, Sex und Anspielungen auf Nekrophilie. „Meine Arbeit besteht aus nicht geschlechtsspezifischen erotischen Obertönen, die für eine große Bandbreite von Interpretationen offen sind“, sagt Adams. Es gibt keine Handlung. Geschlechterdifferenz ist unwichtig. Was dabei herauskommt, ist nicht Theater, nicht Performance, sondern zu 90 Prozent Tanz.

Adams hat am Victorian College of Arts studiert. Nach seinem Abschluss tanzte er zehn Jahre lang in New York City, unter anderem mit der Amanda Miller Pretty Ugly Dance Company und der Nina Wiener Dance Company. Klassische Choreographiemuster hat er hier verinnerlicht. Später gründete er 1998 in Australien seine Compa-gnie BalletLab. In Deutschland war er bislang in dem gemeinsam mit dem Komponisten und Installationskünstler Christian Marclay entwickelten Stück Les Sortilèges zu sehen. Daneben ist Adams auch als Choreograph für die Modeindus-trie erfolgreich. Für seine Arbeit hat er bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten.

Seine Stücke entwickelt er sukzessive nach ausführlicher Recherche. Die Vorbereitungen für Amplification dauerten ein Jahr. Adams ging in Krankenhäuser und befragte die Opfer von Autounfällen. Die beschrieben ihm den Moment, die 1,6 Sekunden, die ihr Leben veränderten, das allumfassende Gefühl, das sie befiel, und erzählten ihm von dem Licht, das sie plötzlich sahen. Diese Sekunden weitet Adams auf der Bühne zu 50 Minuten. 50 Minuten angefüllt mit Symbolen des Overkills an Gewaltdarstellung in Medien und Technik. Seine eigene Faszination gegenüber dem Furchterregenden der Destruktion gibt er dabei offen zu. In die Zerstörung hinein mischt er ein wenig Trash und schwarze Komödie.

In drei Akten, „Sound“, „Body“ und „Light“, präsentiert er verstörende Bilder voller Kontraste, von der Kälte des Metalls und der Sprengkraft eines Autocrashs. Den gestählten Körpern seiner Tänzer – Shona Erskine, Gerard Van Dyck, Michelle Heaven und Stephanie Lake – wird er ein stetes Schweben ihrer Körper zwischen Leben und Tod abverlangen. Die Szenerie hält er bewusst reduziert, stets löst er sich von der Tradition, erzählt bisweilen fantastisch etwas Fiktives und damit sehr Originäres: „Ich muss immer die Hände ganz auf den Gegenstand legen und ihn fühlen.“ Die Tänzer konzentrieren sich ganz auf das vielschichtige Spiel der Körper, auf die verborgenen Inhalte von Sound, Licht und körperlichem Ausdruck. Auf die fragmentierte und wieder rekonstruierte Bewegung. Dazu mischt DJ Lynton Carrs live an den Plattentellern Sounds, die sicherlich ebenso körperlich spürbar sein werden. Doch am Ende wird, in welcher Form auch immer, „das Licht“ stehen, von dem Adams im Laufe seiner Recherchen erfahren hat.

Premiere heute, 20 Uhr, Kampnagel, k1. Weitere Vorstellungen: 19.+20.1., jeweils 20 Uhr