Scheidebecher in der Gifthütte

Wahre Lokale (54): Das menüfreie, aber tränenreiche Restaurace „U Zpěváčků“ in Prag

Nicht immer, wenn „Restaurace“ drauf steht, ist auch ein Restaurant drin. Das „U Zpěváčků“ in der Prager Innenstadt, einen Bierhumpenwurf vom Nationaltheater entfernt, ist in Wirklichkeit ein pajsl – eine Spelunke unterster Kategorie und garantiert menüfrei. Ein Grund, uns nach durchzechter Nacht und kurz vor meiner Abreise am Sonntag gegen 11 Uhr morgens dort einzufinden und einen Scheidebecher zu trinken. Ein gezapftes Pils für 20 Kronen lässt uns die Promille in den Adern stocken, da waren wir im Stadtteil Žižkov andere Preise gewöhnt. Aber die Moldaunähe wird mitberechnet, wenn man sie auch durch die trüben Butzenscheiben nur erahnen kann.

Seinerzeit als Theaterkneipe eröffnet – drum der Name „Zu den Sängern“ –, hat sich vom ehemaligen Glanz bis heute lediglich die lange Öffnungszeit gehalten. Die Nutzung des hinteren Raumes als Umschlagplatz für Drogen aller Art und des vorderen Raumes als Biertrinkhalle mit laufender Flimmerkiste ist im vergangenen Jahr einem Durcheinander von Kraut und Rüben gewichen. Man verkauft bereits an der Tür das Nötige für den Hausgebrauch und verzieht sich nach hinten, wenn man in Ruhe auf den Tisch sacken will. So veröffentlichte der Wirt Jiři Horák im Oktober 1999 – um die drohende Schließung der Kneipe wegen Verwahrlosung zu verhindern – einen Appell in der Prager Zeitung: „Ich möchte eine neue Klientel haben.“ Jetzt hat er zumindest zwei neue Klienten, meinen Kumpel Frank und mich. Und beide sind wir durstig. Wir ordern und stoßen an. Neben uns sitzen noch „Big-Brother“-Harry und -Gerdie in Tschechisch, Hard-Rocker ohne Maschinen beim Bier in Blechdosen wühlend, randvoll mit Gras. Die glatzköpfige Bedienung immerhin ist betriebsam, dreht und wendet die nassen Bierdeckel auf der Heizung und teilt unaufgefordert Humpen mit kühlem Gold aus. Auch an uns. „Gifthütte“ nannte der Prager Bürgermeister Jan Bürgermeister mal dieses Lokal, wohl in Erinnerung an dunkle Stunden mit lockeren Freunden im hinteren Zimmer.

Das typischste körperliche Anzeichen in Prag zu sein, äußert sich allseits im Blasendrang. Frank und ich ziehen Streichhölzer, wer zuerst darf. Meines ist das kurze, ich darf als Erste, weil ich auch am längsten brauche. Denn Mädchen müssen erst zur Theke gehen und „bitte, bitte“ machen. Dann bekommt frau vom lieben Onkel Barkeeper eine Rolle grobkörniges Toilettenpapier ausgehändigt und den einzigen Schlüssel zum Abschließen von innen. Als ich an den Tisch zurückfinde, hat sich das pajsl gefüllt. Musik dringt aus der Box, ein hagerer Tscheche mit lichtem Haar hat einige Kronen in Beatles investiert. Man raucht Start, besser als Sparta, billiger als Petra, stinkiger als alle anderen Zigaretten auf der Welt. Im Laufe der Zeit habe ich den Eindruck, nicht wir, sondern die Kneipe akklimatisiere sich. Während wir dieselben bleiben, verändern sich die Spitzenvorhänge an den Fenstern, die Porzellanquader an den Wänden, die Stammkunden mit den roten Nasen und die schweren Holztische unter den vogelfreien Biergläsern. „Jedno Pivo!“, schallt’s von fern, und man atmet flach.

Geschlossen hatte die Kneipe im letzten Winter nur kurze Zeit, dann feierte sie Auferstehung. „Unkraut vergeht nicht“, brüllt ein Neuankömmling und klopft einem Kumpel zur Begrüßung auf den Bauch. Bis ich so einen habe, fließt noch viel Wasser die Moldau runter. Bei Frank etwas weniger. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, und wir werden traurig. Das „U Zpěváčků“ ist der richtige Ort, um mal wieder so richtig traurig zu werden. Ich glaube für einen Moment, Filip Topol an der Musikbox zu sehen, den legendären Sänger der Psi Vojaci. „Zu den Sängern“. Ich muss weinen, Harry oder Jaromír, Gerdie oder Alice müssen es auch, und wir liegen uns in den Armen, bis das einzig Essbare gereicht wird, in Essig eingelegte Utopenci aus dem Glas, auf Deutsch: Ersoffene. CHRISTINA BACHER