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: WLADIMIR KAMINER über die großen Brände auf der Schönhauser Allee

Knallende Möhren aus Vietnam

Erstaunlich aber wahr: Nicht mal zwei Stunden brauchten unsere Nachbarn in diesem Jahr, um ihre Silvester-Munition zu verballern. Besonders viel Mühe gaben sich die Vietnamesen aus dem ersten Stock. Während die Deutschen sich von ihren Balkons aus mit harmlosen kleinen Raketen begnügten, nahmen die Vietnamesen die Sache ernst. Kurz nach Mitternacht trugen sie zu dritt einen großen Sack vor das Haus. Aus der Ferne sah das Zeug in dem Sack wie getrocknete Möhren aus. Die Männer hängten den Sack an den einzigen Baum vor unserem Haus, zündeten ihn an und gingen in Deckung. Die Möhren verbreiteten erst einen gelben, stinkenden Nebel über die Straße, dann knallte es, und zwar so stark, dass die Balkone zitterten. Es klang wie der Ausbruch des Dritten Weltkrieges. Als sich der Lärm legte, hatten die anderen Nachbarn keine Lust mehr rumzuballern, sie kapitulierten und verschanzten sich in ihren Wohnungen.

Doch die Vietnamesen waren noch lange nicht fertig, nach wenigen Minuten zerrten sie schon den zweiten Möhrensack aus dem Haus. Diesmal hängten sie ihn an eine Straßenlaterne. Unser Baum hatte sich nämlich nach der Explosion in einen Busch verwandelt. Der neue Sack schien noch größer als der erste zu sein. Jetzt lässt sich gut nachvollziehen, meinte mein Freund Yurij, warum die Amerikaner trotz besserer Ausrüstung damals den Krieg gegen dieses stolze kleine Volk verloren haben. Die Vietnamesen sind sehr entschlossen, wenn sie einmal angefangen haben zu kämpfen, dann kann man sie bis zum Ende nicht mehr aufhalten. Wir schlossen alle Fenster und Türen, bevor die Straßenlaterne gegen den Balkon kippte, und gingen zu unserem festlich gedeckten Tisch zurück: Dieses Jahr hatten unsere Frauen sich bei der Vorbereitung des Silvester-Essens auf BSE-freie Delikatessen konzentriert: die Gaben des Meeres und eingelegte Marienkäfer mit Spinat – das Essen der Zukunft. Die Luft in der Wohnung roch stark nach Schwefel, weil die Balkontür zu lange offen stand. Noch zweimal wurde unser Haus von heftigen Explosionen erschüttert, doch kurz nach vier Uhr gingen den Vietnamesen die Möhren aus und es wurde langsam ruhiger. Wie immer an einem solchen Tag sprachen wir über das Schicksal Russlands, über eine neue Platte unserer Leiblingsband „Leningrad“ und über Maxim, der alle nasenlang eine neue Freundin hat.

Danach hörten wir uns zum hundertsten Mal die Geschichte von Markow an. Seine Wohnung in der Paul-Robeson-Straße brannte vor kurzem aus, und das war wohl das Interessanteste, was dem Mann im letzten Jahr passiert ist. Er war fast der letzte Bewohner in dem alten Haus und wurde für die Medien zum Hauptopfer erkoren. Einen ganzen Tag lang gab er Interviews. Früher interessierte sich keine Sau für ihn. Nun wollten alle auf einmal wissen, wie er lebte, wie schrecklich seine Wohnung nach dem Brand verwüstet war und wie er mit dem Unglück klarkäme. Ehrlich gesagt hatte seine Wohnung auch vor dem Brand nicht viel besser ausgesehen, aber das interessierte niemanden. Die Polizei richtete sofort einen fahrbaren Imbissstand für die Brandgeschädigten ein. Dort bekam Markow zwischen den Interviews kostenlos Kartoffelsuppe mit Bockwurst. Und Bürger aus den nebenstehenden, aber noch nicht abgebrannten Häusern brachten ihm säckeweise warme Unterwäsche vorbei.

Am Abend kam es bei Markow auch noch zu einer Überschwemmung. Einige Tonnen Wasser, die von den Feuerwehrleuten aufs Dach gepumpt worden waren, ergossen sich in seine Wohnung. „So viele Abenteuer an einem Tag habe ich im ganzen Leben noch nicht erlebt“, meinte Markow. Doch schon am nächsten Tag ließ das Interesse nach. Auch uns ging er mit seinem Gejammere bald auf die Nerven, gleichzeitig tat er jedoch allen Leid. „Hoffentlich brennt es bei dir auch im nächsten Jahr wieder ein bisschen“, meinte Yurij mitfühlend.