Für immer geschlossen

Tungs Eltern haben ihren Sohn stets angehalten, bei Pöbeleien wegzuhören – so wie sie, wenn sie an der Tankstelle oder auf der Straße beleidigt wurden

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Sie gehen nur aus dem Haus, wenn es sein muss. Aus Angst. Aus Angst, Glatzköpfe zu treffen. Aus Angst vor den Erinnerungen an Zeiten, in denen ihre Welt noch in Ordnung war. Verlassen sie ihre Wohnung und laufen wenige hundert Meter nach rechts, stehen sie vor dem Textilgeschäft, das sie 1999 eröffnet hatten und das jetzt verwaist ist. Gehen sie wenige hundert Meter nach links, sehen sie die Stelle, an der mit Blumen, Fotos und einer hingekritzelten „88“ – dem Code für „Heil Hitler“ – eines Deutschen gedacht wird, der an den Folgen von Messerstichen gestorben ist. Messerstiche, die ihm ihr Sohn Tung beigebracht hat.

Die Eltern des 15-Jährigen, der in Untersuchungshaft sitzt, haben vor sechs Wochen den Mietvertrag für ihr Geschäft gekündigt. Das Schild „Für immer geschlossen“, das bis vor kurzem unter dem Slogan „Immer gut, immer neu, immer billig“ im Schaufenster hing, wurde ersetzt durch ein schlichtes „Laden zu vermieten“. Den Vertrag für ihre Zweizimmerwohnung haben sie zu Ende Januar gekündigt. Nach den tödlichen Messerstichen kamen sie bei „Kollegen“ unter. Mit Kollegen meint die Mutter vietnamesische Freunde und ihre Schwester, die in der Nähe wohnt.

Vor wenigen Tagen haben sie sich zurückgewagt – zum Packen. Sie wissen noch nicht, wohin sie ziehen sollen. Ihre bisherige Suche in Halle, Leipzig und Berlin – ergebnislos. Es ist ihnen egal, wo sie hingehen. Hauptsache, ein Stellplatz für ihren alten VW-Bus. Hauptsache, Arbeit. Hauptsache, weit weg von Bernsdorf. Weit weg, obwohl einige ältere Bernsdorfer, die einst bei ihnen Blusen und Röcke kauften, sie zum Bleiben überreden wollen. „Wir glauben nicht, dass es wieder schön wird“, sagt die 39-jährige Mutter.

Sie kam 1987, ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes, als Vertragsarbeiterin aus Hanoi in eine Schuhfabrik bei Bautzen. In einem sechswöchigen Intensivkurs wurde sie auf die fremde Sprache vorbereitet. Mittlerweile kann sie viel erzählen, nur ist es nicht ganz einfach, sie zu verstehen. Fehler zu machen, scheut sie sich nicht, im Notfall schaut sie in ihrem alten DDR-Wörterbuch nach. Anfangs dachte sie, nach einigen Jahren nach Vietnam zurückzugehen. Schließlich blieb sie. „In Vietnam gibt es keine Arbeit.“ Als die Schuhfabrik dicht machte, verkaufte sie Textilien auf Märkten. Vor fünf Jahren holte sie ihren Mann und ihren damals 10-jährigen Sohn nach Deutschland. „Eine Familie muss zusammen sein.“ Seitdem lebten sie in Bernsdorf.

Nur wenig erinnert in der Wohnung an den Sohn. Ein eigenes Zimmer hatte er nicht. Dafür war in der Zweizimmerwohnung mit Außenklo kein Platz. Die Eltern hatten in ihrem Schlafzimmer eine mit Stoff bespannte Holzwand aufgestellt, hinter die ein Bett und eine Kommode passen. In der Ecke steht eine Gitarre. Darauf hat Tung vietnamesische Lieder gesungen, erzählt die Mutter. Die russische Musikkassette auf der Kommode muss von einem russischen Freund sein. Deutsche oder vietnamesische Freunde hatte er nicht.

Die vier anderen vietnamesischen Schüler, die es im Ort gab, sind bis auf einen alle jünger und viel länger als Tung in Bernsdorf. Als Tung nach Sachsen kam, sprachen sie längst Deutsch und hatten deutsche Freunde. Im ersten Jahr in der Deutschklasse für Spätaussiedler war er anfangs „völlig isoliert“, erzählt der Klassenlehrer. Angefreundet hat sich Tung nur mit Aussiedlern. Als sein „bester Freund und Spielkamerad“ wegzog, habe er „einen Rückschlag“ erlitten. Später in der Regelklasse sei er „sehr unauffällig“ gewesen und habe „gute Leistungen“ gehabt. Doch auch dort habe er nur unter Aussiedlern Anschluss gefunden.

Die Mutter hat ihren Sohn ermuntert, sich deutsche Freunde zu suchen, keine Angst zu haben, Fehler in der fremden Sprache zu machen, nicht schüchtern zu sein. „Mein Sohn ist immer so ruhig“, klagt sie. Der Vater fuhr mit Tung zweimal für je ein halbes Jahr nach Vietnam. „Der Vater zögerte die Rückkehr nach Deutschland immer hinaus“, sagt die Schulleiterin. Vielleicht erklärt das Tungs Probleme mit der Eingewöhnung und die Tränen des Vaters, der kein Deutsch kann und still neben seiner Frau sitzt.

Nur zögerlich berichtet die Mutter davon, wie ihr Sohn oft aus der Schule nach Hause kam und klagte, dass er als „Fidschi“ beschimpft und angespuckt wurde. Seine Eltern trichterten ihm ein, die Anfeindungen zu ignorieren – so wie sie, wenn sie an der Tankstelle oder auf der Straße beleidigt wurden. Wenn Tung nach dem Warum fragte, bekam er zu hören: „Weil wir Ausländer sind.“ Tungs Eltern machen sich klein für ein Leben in einem Land, dass die Mutter als „schön“ und „immer sauber und in Ordnung“ bezeichnet. „Ihr habt hier viel Frieden und Freiheit und viele Parteien.“

Sie betont immer wieder, dass viele Menschen in Bernsdorf „sehr gut zu uns gewesen sind“. Ihre Stimme wird leiser, wenn sie einräumt, dass man das von „den jungen Leuten nicht so sagen kann“. Manchmal benutzt sie das Wort „Kinder“, als wüssten die Rechten nicht, was sie tun. Und manchmal ein Wort, das in ihrem Wörterbuch nicht zu finden ist: Glatzköpfe.

Tungs Eltern finden keine Antwort auf die Frage, warum ihr Sohn zum Messer gegriffen hat, und auch nicht darauf, warum es Leute gibt, „die uns mit anderen Augen anschauen“. Erst am Ende des Besuchs spricht Tungs Vater. Seine Frau übersetzt. „Wir haben viel Arbeit. Warum machen die jungen Leute immer Ärger und lassen uns nicht in Ruhe?“, fragt er. „Unser Sohn hat keine Zukunft mehr“, sagt seine Frau unter Tränen. „Alles ist kaputt.“ In zwei Briefen an die Anwaltskanzlei, geschrieben in ihrer Muttersprache, heißt es: „Wir und alle anderen Vietnamesen in Deutschland wollen den rechten Jugendlichen sagen, dass wir nur fleißige Arbeiter sind.“ Was auf dem Weihnachtsmarkt passiert ist, sei „eine Lektion für beide Seiten“ und „ein teurer Preis für ein Missverständnis“. Sie wollen wissen, „warum Deutschland, ein reiches Land mit einem sehr strengen Rechtssystem, es zulässt, dass einige schlechte Leute immer Probleme verursachen“.

Tung und seine Eltern sind nicht die einzigen Vietnamesen, die angepöbelt und beleidigt wurden. Long, der ein Jahr älter als Tung ist und bis zum Dezember vergangenen Jahres im örtlichen Fußballverein gespielt hat, hörte auf dem Platz regelmäßig „Fidschi“- und „Schlitzaugen“-Rufe, erzählt Mirko Sarink (32), der für die PDS im Stadtrat sitzt und Vorstandsmitglied und Trainer im örtlichen Fußballverein TSG Bernsdorf ist. Weil andere Sprüche „arg unter der Gürtellinie“ waren und Sarink „arg links“ ist, legte er Beschwerde beim Bezirksverband ein. Der nahm sich einige Spieler vor. Aber: „Aus einem Skinhead macht man keinen Klosterschüler.“ Irgendwann habe Long zurückgepöbelt. „Ich sah das als Folge. Wenn man ein paarmal geschlagen wird, schlägt man zurück“, sagt Sarink. Zumindest in Bernsdorf wird es Probleme zwischen deutschen und vietnamesischen Spielern nicht mehr geben: Long hörte wegen einer Knieverletzung auf und lebt jetzt mit seiner Familie in einem Nachbarort.

Fußballtrainer Sarink kannte Matthias F., der an den Folgen der Stichverletzungen gestorben ist, gut. „Der Matthias war für mich ein Rechter“, sagt er. Matthias trug T-Shirts mit Adler und Hakenkreuz, „Schnürschuhe wie das Faschopack“ und entsprechende Tattoos. „Eine Meinung, die ich nie toleriert habe.“ Aber, sagt Sarink über den toten Verteidiger der Herrenmannschaft: „Sonst war er ein feiner Kerl.“ Wie das? „Er akzeptierte, dass er auf dem Sportplatz seine T-Shirts nicht anziehen durfte.“ Zudem sei er „eher der Typ gewesen, der bei Auseinandersetzungen dazwischenging, als dass er anfing“, und habe nie schlecht über Ausländer geredet. Sarink würde es begrüßen, wenn die vietnamesischen Familien nach Bernsdorf zurückkommen würden. „Man sollte versuchen, sie zurückzuholen.“ Wie, weiß er nicht.

Auch der Bürgermeister von Bernsdorf, Eberhard Menzel (PDS), würde die Rückkehr begrüßen. Doch man kann nicht sagen, dass er sich dafür stark macht. Kontakt zu den Geflüchteten hat er nicht aufgenommen. Zwei Familien haben sich bei ihm gemeldet. Helfen konnte er ihnen nicht. „Bei Miet- und Pachtverträgen kann ich mich nicht einmischen“, sagt er. Seine Hilfe beschreibt er so: „Indem man ihnen Mut macht. Mehr kann ich nicht tun.“

Als „Beweis“ dafür, dass die Angst vor Racheakten unbegründet sei, verweist der Bürgermeister auf einen offenen Brief von „unserer Jugend“, der im Dezember verfasst wurde. In dem Schreiben, das aus dem Umfeld des gestorbenen Matthias F. stammt, heißt es: „Wir bedauern die überstürzte Flucht der in unserer Stadt arbeitenden und lebenden vietnamesischen Familien, da sie in unseren Augen unnötig erschien. Wir wollen keine Rache.“ Menzel macht es sich leicht, indem er darauf setzt, dass sich die Existenz des Briefes unter den Vietnamesen herumspricht und sie „wieder in Bernsdorf Fuß fassen“.

Tungs Eltern haben über die Vermieterin ihres Ladens davon gehört. „Aber wir können nicht bleiben“, wiederholt Tungs Mutter. „Immer Angst vor Glatzköpfen.“ Und: „Es geht nicht, alles ist kaputt.“ Einmal sind sie an der Stelle vorbeigefahren, wo Matthias F. gestorben ist. „Es tut weh“, sagt sie unter Tränen. Sie wollte eine Anzeige in die Zeitung setzen, „um den Schmerz der Eltern des Toten zu teilen“. Doch nachdem sich ihre Vermieterin für sie umgehört und in Erfahrung gebracht hatte, dass die Familie „hart“ sei, hat sie das lieber sein lassen.

Die Antirassistische Initiative Berlin hat ein Spendenkonto „Spende Tung“ eingerichtet bei der Bank für Sozialwirtschaft. Kto: 3 039 606, BLZ: 100 205 00