Gegen den Herdentrieb

Renate Künast tritt an: Sie will nicht schönreden, aber auch keine Konflikte schüren. Zu den Landwirten will sie keine Barrieren aufbauen, kündigt sie an

von SEVERIN WEILAND

Einen größeren Gegensatz kann es nicht geben. Am Mittwoch, als Joschka Fischer im Bundestag der Union Rede und Anwort stehen musste, saß der Kanzler neben ihm. Täschelte seinen Arm. Griff selbst in die Debatte ein, um die 68er Generation in Schutz zu nehmen. Einen Tag später herrscht gähnende Leere auf den Regierungssitzen. Kein Ministerkollege hat sich eingefunden, als die neue Verbraucherschutz- und Landwirtschaftsministerin Renate Künast gestern Mittag zum ersten Mal im Parlament zur BSE-Krise spricht. Es gibt offenbar Wichtigeres: Der Bundespräsident bittet einen Kilometer weiter zum Neujahrsempfang im Schloss Bellevue. Kurz vor eins ertragen selbst die Abgeordneten der FDP und der Union nicht mehr den Blick auf eine einsame Künast. Auf Bitten des Bundestagspräsidiums werden vier Staatssekretäre und der Kanzleramtsminister, die sich ebenfalls eine kurze Auszeit gegönnt hatten, wieder in den Plenarsaal hineingerufen.

Am Morgen war Künast im Bundestag vereidigt worden, zusammen mit der neuen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Es gab Blumen, einen Händedruck des Kanzlers. Auch ihr früherer Lebensgefährte, der einstige Berliner SPD-Landeschef Ditmar Staffelt, war unter den Gratulanten. Dass die Bank am Mittag leer ist, scheint sie indes nicht weiter zu stören. Selbstbewusst steht sie am Rednerpult, hält eine kurze Ansprache. Sie hat einen engen Terminkalender: Eine Stunde später warten Agrar-Journalisten, am Abend eröffnet sie die Grüne Woche in Berlin. Bloß nicht schönreden, aber auch nicht Konflikte unnötig schüren – könnte die Überschrift ihrer Rede lauten. Die Krise sei Ergebnis einer „jahrzehntelang verfehlten Agrarpolitik“, die Interessen der Verbraucher seien zu wenig berücksichtigt worden. Sie rechne mit einem Anstieg der BSE-Fälle, Schätzungen gingen von 200 bis 500 jährlich aus. Doch sei nicht ausgeschlossen, schiebt Künast hinterher, dass diese Annahme noch zu niedrig sei.

Künast, die 44-jährige Juristin, gilt als gewiefte Taktikerin. Und so greift sie auf, was ihr in den letzten Tagen aus der Fraktion zugetragen wurde: Keine Barriere gegenüber den Landwirten aufbauen. In Wörlitz auf der Klausurtagung hatten Grüne sich zwar über das Bekenntnis des Kanzlers zu einer neuen Landwirtschaft gefreut. Doch Schröders Satz, man müsse „weg von den Agrarfabriken“, wurde auch als Belastung angesehen. Der Erwartungsdruck an die Grünen sei dadurch enorm hoch, heißt es aus der Fraktion. Künast packte diese Sorgen gestern in ihrer Ansprache in eine Formel: Sie habe ihr Amt nicht „gegen irgendjemanden angetreten“, sondern als Ministerin für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und Ernährung.

Die Opposition ging schonend mit Künast um. Die CDU-Abgeordnete Annette Widmann-Mauz sprach zwar vom Versagen der Regierung, von monatelanger Verharmlosung und Hilflosigkeit. Doch schien dies eher eine pflichtschuldige Anklage, denn die Christdemokratin strich zugleich heraus, dass sie der Ministerin nicht „die Fehler ihres Vorgängers vorhalten“ wolle, habe doch Künast bislang eine Reihe „sinnvoller Vorschläge“ gemacht. Der FDP-Agrarexperte Ulrich Heinrich mahnte Künast, keinen Keil zwischen die Funktionäre und die Bauern zu treiben. Die PDS-Agraringenieurin Kersten Naumann verteidigte die industriellen Agrarbetriebe. Es gebe keine Belege, dass diese für BSE verantwortlich seien. Die PDS, so die Abgeordnete aus dem Osten, werde Künast „kritisch begleiten“.

Begleitung ganz anderer Art gab es zur selben Stunden einige hundert Meter weiter. In der Kälte demonstrierten rund 200 Mitglieder der Gewerkschaft IG Bau und Nahrung-Gaststätten-Genuss sowie eine Handvoll Aktivisten der Umweltorganisation BUND vor Künasts neuem Amtssitz. Im Gebäude in der Wilhelmstraße war das laute Trillern der Demonstranten, die auf Transparenten eine „Wende in der Agrarpolitik“ verlangten, kaum zu überhören.

In ihrem Ministerium wird Künast bald Klarheit schaffen müssen. Fest steht: Zwei Abteilungsleiter, die über einen guten Draht zur bisherigen Agrarlobby verfügen, sollen gehen. Weitere Personalentscheidungen schließt Künast offenbar nicht aus. Es gebe bei ihr „eine ganze Menge an Nachdenken“, sagte sie Anfang der Woche auf einer Pressekonferenz. Fraktionsintern wird Künast für ihre Aufgabe nicht beneidet. Als Manko gilt, dass die überwiegende Zahl der Abteilungsleiter ihren Hauptsitz in Bonn haben. Das erschwere die Kontrolle einer Verwaltung. Sie müsse damit rechnen, dass ihr Steine in den Weg gelegt werden – und zwar parteiübergreifend unter den Agrarlobbyisten aus SPD und Union im eigenen Hause.

In ihrem Ministerium wird Künast mit zwei SPD-Staatssekretären aus der Zeit ihres Vorgängers Karl-Heinz Funke auskommen. Beide, Martin Wille und Gerald Thalheim, hatten bereits auf der Klausurtagung in Wörlitz erste Fühlung mit ihr aufgenommen. Wille gilt als Unglücksrabe, hatte er doch ein mit dem Umweltstaatssekretär Rainer Baake abgestimmtes kritisches BSE-Papier unterschrieben und seine Unterschrift an dem Tag zurückgezogen, als Gesundheitsministerin Andrea Fischer und Funke zurücktraten. Mit dem 29-jährigen Matthias Berninger als parlamentarischen und Alexander Müller als verbeamteten Staatssekretär hat Künast zwei grüne Parteigänger im Ministerium. Berninger werden gute Kontakte zum Kanzler nachgesagt, zudem gilt er als Bindeglied zum Realoflügel um Fraktionschef Rezzo Schlauch und Joschka Fischer. Der 45-jährige Diplomsoziologe Müller verfügt bereits aus seiner Zeit im hessischen Gesundheitsministerium an Erfahrungen im Umgang mit bürokratischen Apparaten. Ihm wird die Kontrolle eines möglicherweise widerspenstigen Apparates obliegen. Was Künast noch fehlt ist ein Pressesprecher ihres Vertrauens. Der wird, heißt es aus der Fraktion, derzeit gesucht.