Überlebenskick im Kung-Fu-Kloster

Morgens um sechs mit den Mönchen die Berge rauf- und runterrobben. Junge Aussteiger suchen im chinesischen Shaolin nach sich selbst. Kampfsport ist für sie ein Mittel, ihren Willen zu stärken. Unter die jugendlichen Chinesen in Adidas-Anzügen mischen sich die Europäer kaum

„Touristen und Medien machen alles kaputt, und deshalb will ich nichts sagen“, erzählt der 17 Jahre alte Junge aus Leipzig. Dass die Chinesen ihm den Namen Shenli gegeben haben, mag er gerade mal zugeben. Ansonsten hält er dicht. Aufrecht sitzt er inmitten eines Grüppchens europäischer Studenten, von denen keiner älter als 21 und auch nicht jünger als 16 ist, in einem kleinen Billigrestaurant an der Auffahrt zum Shaolin-Kloster. Durch alle Ritzen pfeift es. Ein Mitstreiter aus der Schweiz kauert mit fiebriger Miene frierend an dem mit Fettspuren versehenen Tisch. Ein anderer ist so blass, dass er mehr tot als lebendig aussieht. Währenddessen deutet ein junger Brite mit dem Zeigefinger auf die Kellnerin: „Ich-bin ein-Arschloch!“ lässt er sie langsam auf Englisch nachsprechen.

Man vertreibt sich die Zeit. Die dreckige blaue Gardine am Fenster spendet kaum Schutz vor dem Wind. Sehnsüchtig wartet die Runde auf das Gericht, das Shenli den Köchen beigebracht hat: Pommes Frites.

Derartige Besucher sind neu. Der Sturm der Aussteiger auf Shaolin setzte erst vor zwei Jahren ein, nachdem ein Zehnjähriger aus Deutschland von seinen Eltern zum Kung-Fu-Training nach Shaolin geschickt worden war. Ganz allein zwischen Chinesen hatte er ein Jahr lang ausgeharrt. Nach seiner Rückkehr wurden seine Erlebnisse vermarktet. Ein Held zum Nachahmen.

Tatsächlich ist das vierzehnhundert Jahre alte Kloster in der Provinz Henan von alters her Mekka und Mythos der Kung-Fu-Begeisterten. Einzig die Vermarktung des Klosters ist neueren Datums. Mit den Kung-Fu-Tricks lässt sich Geld verdienen. Das haben gewisse Filmemacher aus Hongkong schon vor dreißig Jahren begriffen, gefolgt von lokalen Souvenirverkäufern und Hotelbesitzern. Anfang der Achtzigerjahre haben selbst die Mönche Gefallen am Kapitalismus gefunden. Viele sind aus dem Kloster ausgetreten, um ihre eigenen Kampfsportschulen zu gründen. Inzwischen wimmelt es in Shaolin von jungen Chinesen in Adidas-Anzügen, die in einem der vierzig Institute Kung-Fu lernen.

Filmstars wie Bruce Lee oder Jackie Chan werden die Studenten wohl kaum. Trotzdem, bei der Armee, den Sicherheitsdiensten und der Polizei sind die Absolventen der Schulen gefragt. Dem kleinen Dorf mit seinen tausend Einwohnern, die früher einzig von den Aufträgen des Klosters abhängig waren, haben die Schulen sogar zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen. 600 Studenten beherbergt das größte Institut, die Turmgrabenschule.

Von dem kommerziellen Rummel um das Kloster will Shenli jedoch nichts wissen. Ihm kam, wie er nach einer Weile zugibt, die Eingebung „ganz zufällig“ im Alkoholrausch auf einem Sofa nach einer wilden Party in Köln. Fitnessfreaks und Touristen seien ihm zuwider. Vor acht Monaten ist er nach China gekommen und wird direkt im Kloster unterrichtet. Dafür bezahlt er 360 Mark, einen Niedrigstpreis, der eigentlich chinesischen Studenten vorbehalten ist. Dennoch, Feilschen sei eine Form, sich Anerkennung zu verschaffen, meint Shenli. „Das spricht sich sofort im Dorf herum, wenn du dich übers Ohr hauen lässt.“

Nicht einmal mit den Studenten der Kung-Fu-Schulen außerhalb des Klosters möchte Shenli Kontakt pflegen. „Alles nur Kommerz für Weicheier“, winkt er spöttisch ab. Authentizität beansprucht er allein für sein Programm: Morgens um sechs die Berghänge mit den Mönchen hoch- und runterrobben, danach zehn Stunden Training. „Massiv hart“, erklärt Shenli. „Hab hier schon böse Unfälle gesehen. Im Winter liegen die meisten mit verrenkten Gliedern im Bett.“ Aber wenn schon: „Mit deinem Willen erreichst du alles, das habe ich hier gelernt.“

Umstritten bleibt Shenlis Überlebenskick jedoch allemal: „Das Interesse an Kampfsportschulen ist bei Deutschen ungemein groß, aber alles wird durch die rosarote Brille gesehen“, sagt ein deutscher Diplomat, zu dessen Aufgabe es gehört, Minderjährige aufzuspüren, den privat geleiteten Kung-Fu-Schulen aber machtlos gegenübersteht. Geschichten von deutschen Minderjährigen, die sich aus dem Staub gemacht haben, häufen sich. Und gefragt, was er von den Aussteigern halte, schüttelt auch ein einheimischer Verkäufer den Kopf. Denn Geld bringen sie nicht. KATHARINA HESSE