: Ein Projekt zur Verständigung
1944 wurden 1.400 Männer aus Saint-Dié nach Mannheim verschleppt und dort als Zwangsarbeiter eingesetzt. Acht Schüler haben die Geschichte jetzt rekonstruiert
Nach Kriegsende suchte Marc François auf dem Mannheimer Friedhof die Gräber seines Cousins und eines anderen Jungen aus Saint-Dié, die mit siebzehn Jahren bei einem Bombenabwurf umgekommen waren. Er hatte den Totengräber gebeten, die Stellen zu markieren – und nun waren tatsächlich auf beiden Gräbern blaue, weiße und rote Blumen gepflanzt. Ein Zeichen der Freundlichkeit zum Schluss, zum Ende der Deportation von über 1.400 Männern aus der Vogesenstadt Saint-Dié nach Mannheim.
Stationen und Umstände dieser Verschleppung zeichnet ein Buch nach, an dem acht Schüler der Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried mitgearbeitet haben. Entstanden ist es durch „Völkerverständigung“, unterstützt von der Europäischen Union: Ab 1996 fuhren die Schüler nach Saint-Dié, führten Interviews, baten insgesamt rund 60 der Männer, die im November 1944 von dort zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren, um Auskünfte – seinerzeit waren sie so alt wie die Schüler heute. Im Mittelpunkt des zweisprachigen, in neun Kapitel gegliederten und mit Aufnahmen der Deportierten illustrierten Buchs stehen deren Erinnerungen.
Zu den Recherchen angeregt hatte der Lehrer und Historiker Dr. Peter Koppenhöfer, Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen. Im Buch legt er den historischen Hintergrund dar: so die Operation unter dem Decknamen „Waldfest“. Bei dieser bemühten sich im Herbst 1944 NS-Führer unter Beteiligung Himmlers, in den lothringischen Vogesen eine Verteidigungslinie aufzubauen und die Résistance zu schlagen. Hier zusammengezogene, berüchtigte Gestapo-Kommandos errichteten monatelang ein Terrorregime, folterten, mordeten, plünderten, brannten Häuser ab. Im November 1944 erreichten die Verbrechen ihren Höhepunkt. Die Männer von etwa 38 Orten wurden deportiert, die Orte „evakuiert“, geplündert, schließlich abgebrannt.
Die größte der Terroraktionen betraf das regionale Zentrum, die Stadt Saint-Dié: Über 1.400 Männer im Alter von 16 bis 45 Jahren wurden von der Gestapo zu Schanzarbeiten einbestellt, in Wirklichkeit aber zur Zwangsarbeit verschleppt. Währenddessen wurden die restlichen Bewohner im Westteil der Stadt zusammengetrieben, das geräumte Saint-Dié geplündert, niedergebrannt. Der Transport der Verschleppten in zwei Zügen endete in Mannheim – sie wurden, offenbar auf Druck örtlicher Firmen, bereits hier ausgesucht und „eingesetzt“, vorgesehen waren sie anscheinend für Dachau.
Die Sicht der Verschleppten eröffnet ungewohnte Blicke auf den Alltag der Zwangsarbeit. Die Arbeits- und Lebensbedingungen bei den Betrieben und Handwerkern richteten sich in der Regel nach der Größe der Firmen und Lager: In kleinen Betrieben ging es den Deportierten meist besser, in großen Firmen und Lagern war das Leben oft ein Kampf ums Überleben. Die Lager – die größten in zwei Schulen – waren schlecht beheizt, voller Ungeziefer, „man hatte immer Hunger“. Viele Franzosen erkrankten, einige starben.
Berichtet wird von schwerer und schlechter Arbeit, von überlangen Arbeitszeiten. Ein Beispiel gemeinsamer Arbeitsverweigerung gibt es auch: Deutsche forderten die Franzosen in der teils zerstörten Südkabelfabrik in Rheinau auf, besonders langsam zu arbeiten. Für die Franzosen gab es von Seiten der Deutschen gelegentlich Hilfen und Essensgaben – von den Ausländern wurden sie noch am besten angesehen. Das Buch gewährt über Aussagen und Aufzeichnungen der Verschleppten bewegende Einblicke in konkrete, alltägliche Zwangsarbeitsverhältnisse und die Lage in der Mannheimer Region im harten Winter 1944/45, in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs.
FRANK-UWE BETZ
KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen/Association des Déportés de Mannheim, Saint-Dié (Hg.): „Die Männer von Saint-Dié: Erinnerungen an eine Verschleppung“, 320 Seiten, Centaurus Verlag, Herbolzheim 2000, 48 DM
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