piwik no script img

Warten auf das Gutachten

Der aus dem Maßregelvollzug entflohene Straftäter Igor P. hätte bereits im Spätherbst gute Chancen gehabt, aus der Klinik entlassen zu werden. Doch die Berliner Justiz hat seine Entlassung verzögert

Die Staatsanwaltschaft hatte kein Interesse an einer baldigen Überprüfung des Falles Igor P. Auch ein Gutachten wurde verzögert

von PLUTONIA PLARRE

Igor P. ist noch immer auf freiem Fuß. Doch die Geschichte des in der vergangenen Woche aus dem Maßregelvollzug entflohenen Häftlings erscheint heute in einem ganz anderen Licht. Denn nach Informationen der taz saß P. ohnehin nur noch im Maßregelvollzug, weil die Justiz das psychiatrische Gutachten über P. bewusst hinausgezögert hat.

Die Staatsanwaltschaft hatte offensichtlich kein Interesse daran, dass P. aus dem Maßregelvollzug freikommt – ein neues Gutachten über P.s psychische Verfassung hätte eine Freilassung jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit zur Folge gehabt. Doch die Staatsanwaltschaft wartete, so taz-Informationen, auf einen neuen Haftbefehl gegen P. aus Bayern. Der aber traf erst am 20. Dezember ein. Wäre Igor P. vorher begutachtet worden, so hätte es keine rechtliche Handhabe gegeben, ihn weiter festzuhalten. Er hätte ganz legal aus der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik entlassen werden müssen. Auch dann wäre Igor P. vermutlich dorthin, wohin er sich nach seiner Flucht am Sonntag vor einer Woche auch abgesetzt hat. Dann allerdings hätte er Entlassungspapiere in der Tasche gehabt.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Aufregung der vergangenen Tage um die Flucht des gebürtigen Weißrussen absurd. Am vergangenen Mittwoch gar waren Rücktrittsforderungen an Gesundheitssenatorin Gabriele Schöttler (SPD) laut geworden. Die für den Maßregelvollzug verantwortliche Senatorin war unter Beschuss geraten, weil sie die Öffentlichkeit erst mit zwei Tagen Verspätung über die Flucht informiert hatte. Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) hatte sich jedoch vor seine Senatorin gestellt. Dabei ließ sich Justizsenator Diepgen offenbar von der Devise leiten: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Nach den der taz vorliegenden Informationen sind Schöttler im konkreten Fall – außer einer etwas unglücklichen Informationspolitik – keine Versäumnisse vorzuwerfen. Anders bei der Justiz.

Der 32-jährige Weißrusse Igor P. hatte 1995 wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung in Berlin vor Gericht gestanden. Die Tat, eine angebliche Bestrafungsaktion von Bandenmitgliedern, hatte sich im Rotlichtmilieu abgespielt. Von Teilen der Presse ist er in den vergangenen Tagen als Sexualstraftäter dämonisiert worden, dem ist nach Angaben der Klinikleitung aber mitnichten so. Aufgrund einer bei ihm festgestellten Schizophrenie wurde P. am Ende seines Prozesses 1995 wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und in den geschlossenen Maßregelvollzug in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik eingewiesen. Dort stellten die Ärzte alsbald fest, dass P.s Symptome auch ohne Medikamente verschwunden waren. P., so die Diagnose der Ärzte, sei „eine gesunde, aber kriminielle Persönlichkeit“. Am 20. Mai 1997 hatte der Weißrusse einen begleiteten Ausgang erstmals zur Flucht genutzt. Gefasst wurde er erst am 7. Febraur 2000 in Warschau. Dort soll er sich an Autoschiebereien beteiligt haben. Nach mehreren Monaten in polnischer Auslieferungshaft wurde P. im Juli 2000 in den Berliner Maßregelvollzug zurückgebracht. In einem Schreiben wiesen die Ärzte die zuständige Staatsanwaltschaft am Landgericht am 8. August 2000 darauf hin, dass P. völlig symptomfrei sei. Er sei aber sehr gefährlich, und es bestehe große Fluchtgefahr. Eine Antwort auf das Schreiben bekam die Klinikleitung nicht. Die Staatsanwaltschaft leitete den Brief an die zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts weiter. Diese beauftragte Anfang September den Leiter des Forensischen Institutes der Freien Universität, Hans-Ludwig Kröber, damit, ein neues Gutachten über P. zu erstellen.

Die Wahl der Strafvollstreckungskammer sei ganz bewusst auf Kröber gefallen, sagt der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer, Karl-Friedrich Föhrig der taz. Man habe bewusst in Kauf genommen, dass die Fertigstellung des Gutachtens bei einem stark beschäftigten Mann wie Kröber länger dauere als bei anderen Sachverständigen. „Dafür handelt es sich aber auch um ein Gutachten auf höchstem Niveau.“ Die Frist für das Gutachten wurde auf Ende Dezember gesetzt. Anfang Dezember schrieb Kröber, dass er die Frist nicht werde einhalten können, da er mit einer Expertise über den Ende Oktober in Brandenburg entflohenen und wieder gefassten Sexualstraftäter Frank Schmökel befasst sei. Föhrig verlängerte die Frist daraufhin bis Ende Februar 2001.

Der Vorsitzende ist sich darüber im Klaren,dass Igor P. bereits im Spätherbst ganz legal auf freien Fuß hätte kommen können, wenn die Kammer einen weniger ausgelasteteten Sachverständigen mit dem Gutachten beauftragt hätte. So etwas sei in einem Monat leistbar. Die Kammer aber habe den bestmöglichen Sachverständigen gewollt. Aus gut unterrichteten Kreisen verlautet, Kröber habe von der Justiz signalisiert bekommen, für das Gutachten bestünde kein Grund zur Eile. Die Staatsanwaltschaft habe größtes Interesse daran gehabt, die Fertigstellung des Gutachtens möglichst lange hinauszuzögern, weil sie auf den Haftbefehl aus Bayern wartete.

Nach der Verkündung des Haftbefehls am 20. Dezember wegen Auto-Bandendiebstahl kam P. wieder in den Maßregelvollzug; das Gutachten lag schließlich noch nicht vor. Am 14. Januar schuf er dann mit dem Ausbruch selbst Fakten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen