Zipfel vom Spiel erwischt

Pat Rafter, Tennisprofi aus Queensland, besiegt in einer lauen Südseenacht den Slowaken Dominik Hrbaty und muss sich im Halbfinale der Australian Open auf sommerfrischen Sport gefasst machen

aus Melbourne DORIS HENKEL

Selbst Pat Rafter wusste nicht genau, wie viele Mitglieder der großen Familie gerade zugesehen hatten bei seinem Sieg gegen den Slowaken Dominik Hrbaty (6:2, 6:7, 7:5, 6:0). „Alle waren bestimmt noch nicht da“, meinte er – alle, das sind fünf Brüder, drei Schwestern, Mutter und Vater.

Doch die Mehrheit war vertreten, und die versammelten Rafters feierten Sieger Pat so enthusiastisch wie der Rest der 15.000 Tennisfans auf den Rängen. Mit jedem Tag träumen sie alle zusammen ein kleines bisschen mehr davon, dass Rafter am Sonntag als erster Australier seit 25 Jahren den Titel in Melbourne gewinnt.

Die Erleichterung an diesem Abend war spürbar und groß, denn Dominik Hrbaty hatte den Leuten Angst eingejagt. Mit hammerharten Aufschlägen und variablem Spiel hatte er Rafter mehr als eine Stunde lang mächtig unter Druck gesetzt. Würde er regelmäßig so spielen, gehörte er garantiert längst zu den zehn Besten der Welt. Doch mit ein wenig Glück erwischte der Australier im dritten Satz bei einem Rückstand von 1:4 noch einmal einen Zipfel vom Spiel, und danach ließ er bis zum Schluss nicht mehr locker.

Das war sozusagen die Ouvertüre, durchsetzt mit Paukenschlägen, und nun warten alle auf das richtige Stück: Im Halbfinale am Donnerstag spielt Rafter gegen Titelverteidiger Andre Agassi. Der gewann 7:5, 6:3, 6:4 gegen Todd Martin und spielte dabei so, als sei er gerade aus der Sommerfrische gekommen und habe den Wind mitgebracht. Alle, die ihm dabei zugesehen haben, machen sich nun ein wenig Sorgen um Rafter, und sie denken mit leichtem Schaudern an die letzte Begegnung der beiden bei diesem Turnier.

Andre Agassis Erinnerung an diesem Abend vor sechs Jahren ist so frisch und bunt, als habe er die ganze Geschichte eben erst nachgelesen. „Sechsvier, sechsdrei, sechsnull“, sagt er, „ich hab’ drei unerzwungene Fehler gehabt und 33 Winner.“ Und was sonst? „Eine himmlische Nacht. Jeden Ball habe ich so getroffen, wie ich wollte.“ Mal abgesehen davon, dass er das Ergebnis leicht durcheinander bringt durch einen Tausch der Sätze eins und zwei, erinnert er sich vermutlich deshalb so gern und so genau, weil dieser Sieg damals im Achtelfinale gegen Rafter beim ersten Gastspiel in Australien schließlich auch zum ersten Turniersieg in Melbourne führte.

Es war in der Tat ein ganz besonderer Abend. Die Luft war weich und warm wie in einer Südseenacht, und als das Publikum in die Arena strömte, lief zur Einstimmung Frank Sinatra vom Band. Er sang: „I’ve got you under my skin“, doch was dann passierte, machte Gänsehaut. Der junge Pat, damals gerade 22 Jahre alt und mit der Last der großen australischen Hoffnung beladen, wurde klein und kleiner im Kampf mit dem Giganten.

Obwohl er in den Jahren danach zweimal die US Open gewann (97 und 98), kam er beim Heimturnier in Melbourne bis zum diesem Jahr nie wieder über die vierte Runde hinaus. Die Erwartung der Leute setzte ihm zu, und er war nie so gut in Form, dass es gereicht hätte, die Favoriten zu besiegen. Die großen Erfolge sammelte er anderswo – in New York, wo er zweimal die US Open gewann. Rafters Erinnerung an den Abend im Januar 95 ist fast so genau wie die des Konkurrenten Agassi, und es ist wohl genügend Zeit vergangen, dass sie jetzt nicht mehr bitter schmeckt. Das sei eine Atmosphäre gewesen wie bei einem Rockkonzert, sagt er.

Doch wenn er es sich aussuchen könnte, dann hätte er es doch lieber, würden sich die Ereignisse aus der letzten Begegnung mit Agassi wiederholen. Die fand vor einem halben Jahr im Halbfinale der Championships auf Wimbledons Rasen statt, und Rafter gewann in fünf atemberaubenden Sätzen.

Aber es ist die Gegenwart, die zählt, nicht die Vergangenheit. Die Gladiatoren sind bereit. Patrick Rafter sagt: „Ich werde mich reinhängen, ich bin hungrig, ich bin entspannt, und ich bin glücklich.“ Das hört sich an wie das erste Gitarrenriff eines Rockkonzerts; Midnight Oil, oder so.

Frauen, Viertelfinale: Jennifer Capriati (USA/12) – Monica Seles (USA/4) 5:7, 6:4: 6:3; Lindsay Davenport (USA/2) – Anna Kurnikowa (Russland/8) 6:4, 6:2 Doppel, Viertelfinale: Prinosil/Byron Black (Amberg/Simbabwe) – Wayne Black/Kevin Ullyett (beide Simbabwe) 6:3, 6:4