GEFORDERTE FREILASSUNG VON PAPON: GEFÄHRLICHE GESCHICHTSREVISION: Der Täter wird zum Opfer gemacht
Dass Greise und Schwerkranke nicht hinter Gitter gehören, versteht sich von selbst. Es ist Teil des „humanen Strafvollzugs“, dass Menschen zu Hause sterben dürfen. Selbst wenn sie die schlimmsten Verbrechen begangen haben und dafür verurteilt worden sind.
In Frankreich allerdings ist bislang nur ganz wenigen aufgefallen, dass mehr als 25 Menschen mit über 80 Jahren und ungezählte Behinderte in den Gefängnissen dahinvegetieren. Dagegen ausrichten konnten sie nichts. Jene französischen Anwälte und Politiker, die jetzt plötzlich „aus humanitären Gründen“ nach der Begnadigung eines 90-Jährigen verlangen, haben sich nie zuvor um die Lage von alten und kranken Gefangenen gekümmert. Ihnen geht es um Maurice Papon. Um den französischen Spitzenbeamten. Um das Symbol.
Papon, der zwischen 1942 und 1944 die Deportation von mehr als 1.400 Juden organisiert hat, ist der einzige hohe Beamte des Vichy-Regimes, der wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt wurde. Bis es so weit kam, machte Papon eine brillante Karriere: als Präfekt in Paris und Algerien und in den 70er-Jahren sogar als Minister unter Giscard d’Estaing. Als Angehörige von Papons Opfer versuchten, ihn als Schreibtischtäter vor Gericht zu bringen, konnte er immer wieder von seinen Seilschaften profitieren. Das Verfahren wurde 17 Jahre lang verschleppt.
Dass es politisch überhaupt möglich wurde, hat mit dem Generationenwechsel und Präsident Chirac zu tun. Nachdem er 1995 Vichy zum Teil der französischen Geschichte erklärt hatte, war der Weg für ein Verfahren gegen einen Spitzenbeamten jenes Regimes möglich. Dass es Papon traf, liegt an dessen außergewöhnlicher Langlebigkeit.
Viele von denen, die jetzt Papons Freilassung verlangen, obwohl er erst 15 Monate seiner zehnjährigen Gefängnisstrafe abgesessen hat, gehörten zu der Verweigerungsfront, die ihn jahrelang schützte. Dass sie jetzt auftrumpfen und dass in ihrem Diskurs der Täter Papon zum Opfer Papon wird, kommt einer Geschichtsrevision gefährlich nahe. DOROTHEA HAHN
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