: Life according to Kismet
Film ohne Bundesstart: Das Abaton zeigt exklusiv Andreas Thiels „Kismet“ ■ Von Christiane Müller-Lobeck
Ein Richter, sein Referendar, dessen Freundin und ein Mörder: In den Räumen zwischen diesen vier Figuren entwirft Andreas Thiels Kismet seine alptraumhafte Geschichte in einer der heißesten Nächte des Jahres in Köln. Jan und Christine haben keine Geheimnisse, sie führen eine ganz normale Studentenbeziehung. Oder vielmehr führten, denn Mister Jura hat sich eben von Miss BWL getrennt. Beim Pissen im Park stolpert Jan über die prollig gekleidete Leiche einer fast echt blonden Frau. Selbstverständlich eilt der brave Junge zur nächsten Telefonzelle, um die Bullen zu rufen, doch Fatih Akin als der blutbesudelte Mörder stürmt auf ihn ein: „Gib mir nur fünf Minuten! Ich kann das alles erklären!“
Aus fünf Minuten wird eine ganze Nacht, getrieben von Jans Neugierde auf das Geheimnis des Boys. Der nennt sich Toni, weil seinen türkischen Namen niemand aussprechen kann und sich der Italo-style allemal besser macht. Christine macht sich derweil auf die Suche nach Jan und läuft dabei ausgerechnet seinem Vorgesetzten, Axel Milberg als Richter Kraus, in die Arme. Der hat auch so seine Geheimnisse, den Klub einer Transe zum Beispiel, vollgestopft mit illegalen Prostituierten, die der treue Ehemann nachts heimlich aufsucht. Und mehr und mehr wird das brave Mädchen in den Bann seiner Geheimnisse gezogen. Sie erliegt dem Sog der Verlockungen des verruchten Nachlebens, zunächst weil sie glaubt, auch Jan hüte ein Geheimnis vor ihr, dann aus eigenem Antrieb.
Zwischendurch lernt Jan gründlich das Leben eines Underdogs kennen, für dessen Personifizierung das deutsche Kino in letzter Zeit immer einen türkischen Schauspieler oder mehrere bereithält. Und es ist nicht ohne Reiz für ihn, denn Toni kann ihm auch besser einen blasen als Christine. Bis die vier am Ende alle zusammentreffen, sind nur noch drei von ihnen am Leben.
Desweiteren sind eine Ente und – dramatisch – der Dackel einer alten Oma zu Tode gekommen, so schnell geht das nämlich mit dem Ermorden. Und immer kommt nach einem Tod ein ganz archaischer Riesenhunger bei denen, die ihn miterlebt oder verursacht haben: Fleisch.
Ein Rezensent, der den Film auf dem Münchner Filmfest gesehen hatte, fragte empört, warum Jan sich bloß immer mehr in die Fänge des Mörders Toni begebe: Zu sehr konstruiert sei die Geschichte, zu wenig nachvollziehbar das Ganze. Ebensogut könnte er sich allerdings fragen, warum er im Kino sitzen geblieben ist. Erwartungen, allen voran die nach Erklärungen, werden in Kismet immer wieder enttäuscht.
Kaum einmal erfährt der Zuschauer mehr als Jan von Tonis Motiven. Denn wenn er sich auch auf das Spiel eingelassen hat, die Beweggründe für die Ermordung seiner Freundin Anja bleiben im Dunkeln. Toni führt uns durch seinen Alltag, sein abgründiges Leben, das Leben eines Deklassierten zwischen Schnappmessern, Fastfood, Drogen, Prostitution und Nazi-Wirten. Aber nicht einmal diesen Lebensumständen wird aufgebürdet, für die Tat verantwortlich zu sein.
Dem Kinozuschauer derartig einen Spiegel vors Gesicht zu halten, ihm seinen Hunger nach Erklärungen und damit ihn selbst vorzuführen, mag man für überholt halten. Die Geschichte, die einem dabei mit auf den Weg gegeben wird, ist aber intelligenter, das Alltagswissen, das aus Toni spricht – auch dank einer brillianten Dialogregie - allemal weniger spießig als die Platitüden, die einem im deutschen Film der letzten Jahre in der Regel zugemutet wurden.
Die Versuchsanordnung holpert zwar hier und da, die schauspielerischen Leistungen sind hier und da nichtmal auf der Höhe dessen, was man hierzulande so gewohnt ist. Aber wieso sollte das Schicksal, das ein Regisseur lenkt, mehr Perfektion besitzen, als das, was Gott seinem Pulikum immer so angetan hat. Skurrilität und Holprigkeit liegen eng beieinander, und Skurriles hat Kismet jede Menge zu bieten - außerdem den vielleicht besten Urteilsspruch, der je über Lichterketten gesprochen wurde.
Premiere heute, 20 Uhr; regulärer Start am 15.2., Abaton
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