„Green Card allein hilft nicht“

Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, fordert mehr Klarheit im Arbeits- und Ausländerrecht und eine Ausbildungsabgabe für Firmen, die anwerben

Interview: NICOLE MASCHLERund EDITH KRESTA

taz: Ihre Parteichefin Renate Künast hat den Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ verabschiedet. Träumen auch die Grünen von der deutschen Leitkultur?

Marieluise Beck: Verabschiedet hat sich niemand. Unsere Botschaft ist, dass die Gesellschaft ihr Gesicht durch Zuwanderung verändert, und zwar beide Seiten. Den Begriff der Pluralität finde ich dafür schöner, weil er die Wechselwirkung, die gegenseitige Beeinflussung, berücksichtigt.

Statt „einer Million neuer Staatsbürger“, von der Sie noch vor der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ausgegangen waren, stellten im vergangenen Jahr nur etwa 200.000 Menschen Anträge. Ist Deutschland nicht attraktiv genug?

Mit der Wahl in Hessen hatten wir die politische Auseinandersetzung um die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit verloren. Es war absehbar, dass die Einbürgerungszahlen nicht mehr so hoch sein würden wie bei der doppelten Staatsbürgerschaft. Immerhin ist die Zahl der Anträge gestiegen. Bei dem ganzen Pulverdampf um das Einbürgerungsrecht wurde oft vergessen, dass wir auch das Geburtsrecht eingeführt haben. Für mich ist das der eigentlich politisch bedeutsame Schritt. Endlich setzt sich auch in Deutschland eine republikanische Staatsauffassung durch: Wer hier lebt, gehört dazu.

Was ist mit den Migrantenkindern, von denen inzwischen immerhin jedes dritte in Deutschland geboren ist?

Die im Inland geboren sind, die haben nun ein Geburtsrecht auf den deutschen Pass. Bei der Einbürgerung von Kindern aber war die Enttäuschung in der Tat am größten, und, ich glaube, auch unsere Fehleinschätzung. Von den etwa 300.000 Kindern, die anspruchsberechtigt sind, hatten wir großen Zulauf erwartet, am Ende waren es nur 10 Prozent. Ein Grund liegt auf der Hand: die Höhe der Gebühren. Viele Familien sagen sich: dreimal 500 Mark, das können wir nicht aufbringen. Die Kommunen hätten Spielräume, wenn sie wollten.

Noch im letzten Frühjahr sahen Sie ein Einwanderungsgesetz mit Skepsis . . .

Wir sind nicht gegen ein Einwanderungsgesetz. Doch die Diskussion lief so, als gäbe es in Deutschland ungesteuerte Zuwanderung. Die FDP sprach sogar von einem Einwanderungsbegrenzungsgesetz. Dabei kommen die Zuwanderer aufgrund gesetzlicher Ansprüche und Rechte zu uns. Doch das Rechtssystem ist zu verstreut, zu bürokratisch.

 Was wir brauchen, sind vor allem neue Regelungen im Bereich Arbeitsmigration, ein systematisches Arbeitsgenehmigungs- und Ausländerrecht. Mit einer bloßen Ausweitung der Green Card auf andere Branchen ist es nicht getan. Vielmehr müssen wir – möglichst noch in dieser Legislaturperiode – wegkommen von verschämten Ausnahmeregelungen hin zu einem Gesamtkonzept, das den Zuwanderungsbedarf mit den nötige Qualifikationsanstrengungen verknüpft.

Wiederholt sich mit der Green Card nicht gerade die Anwerbepolitik der 60er-Jahre? Macht sich die Politik erneut zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft?

In Zeiten der Globalisierung muss es auch die Möglichkeit geben, hin- und herzuwandern. Ob ich nun den Inder in Bangladore an seinem Laptop arbeiten lasse und ihm Daten rüberjage oder ob er in Deutschland ein Visum bekommt – da sind die Übergänge fließend. Vorrang muss heute die dauerhafte Einwanderung haben. Die Green Card ist ja nicht wie ihr US-Vorbild eine Dauerkarte, sondern ein begrenztes Fünfjahresticket. Damit ist sie aber weder ein attraktives Angebot im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ noch ein ausreichendes Instrument, um dem gesellschaftlichen Einwanderungsbedarf zu entsprechen. Ein Gesamtkonzept für die Arbeitsmigration muss ferner mit Qualifikationsverpflichtungen im Inland verknüpft werden: Unternehmen, die im Ausland Arbeitskräfte anwerben, sollten für dieses Recht in einen Fonds einzahlen. Damit ließen sich vor allem zugewanderte Jugendliche fördern, die bei Berufsabschlüssen immer noch weit hinterherhängen.

Woran scheitern ausländische Jugendliche bisher?

Hürden liegen beim Übergang von der Schule in den Beruf und in den Berufsschulen, wo sie mit der Fachsprache nicht klarkommen. Hinzu kommt eine verbreitete Diskriminierung: Obwohl die Ausbildungsabschlüsse junger Migrantinnen besser werden, kommen sie ungleich schlechter ins duale System als deutsche Jugendliche. Da gibt es offenbar ethnisch-kulturell begründete Diskriminierung. Ich denke, dass die Antidiskriminierungsgesetzgebung der EU ein Baustein sein wird, um Wege zu öffnen.

Ein Integrationsgesetz, haben Sie gesagt, delegiere Verantwortung und binde die Gesellschaft nicht ein. Warum haben Sie nun selbst ein Eckpunktepapier zur Integration von Neuzuwanderern vorgelegt?

In der Debatte gibt es eine Schlagseite: Integration wird gleichgesetzt mit vollkommener Anpassung. Stichwort „Leitkultur“. Man kann aber nicht den idealtypischen Normdeutschen in die Mitte stellen und sagen, an den hin wird jetzt integriert, und irgendwann vermelden wir: Integration erfolgreich abgeschlossen. Integration ist ein Prozess, der auf unendlich vielen Ebenen stattfindet: auf Bundesebene im Bereich der Rahmensetzung, also Arbeitsmarktzugang, Sprachförderung, Berufschancen und Staatsbürgerschaftsrecht. Mit einem Integrationsgesetz allein ist es nicht getan.

Was müsste auf der gesellschaftlichen Ebene geschehen?

Das sind Prozesse, die sich nicht immer steuern lassen. Doch die vergangenen 40, 50 Jahre haben gezeigt: Die Integration von Zuwanderern ist eigentlich eine Erfolgsstory. In Städten wie Stuttgart und Frankfurt mit einem Ausländeranteil von 30 Prozent gibt es – bei allen Problemen in Schulen oder Stadtvierteln – vergleichsweise wenig Konflikte. Die Menschen haben die Integration in die eigene Hand genommen.

Der Bund soll also künftig den Rahmen setzen. Glauben Sie, dass die Länder so einfach mitziehen werden? Wenn es um Sprachkurse für Zuwanderer geht, drohen Bayern und Hessen mit Zwangsmaßnahmen. Sie dagegen setzen auf Anreize.

Ich möchte doch mal sehen, wie man den Harvard-Professor verpflichten will, bitte schön erst mal zur Volkshochschule zu gehen und einen Orientierungskurs zu machen. Ein Großteil der EU-Bürger hat das Recht auf Freizügigkeit. Diese kann man gar nicht zu Deutschkursen verpflichten. Die Türken – und um diese Gruppe geht es unausgesprochen – sind den EU-Bürgern hier durch das Assoziationsabkommen gleichgestellt. Daher arbeiten wir am besten mit Anreizen: Wer Sprachkurse macht, erhält frühzeitiger Zugang zur Staatsbürgerschaft, zum Arbeitsmarkt oder zu einem verfestigten Aufenthalt. Diese Ausländer, heißt es im Moment, die muss man am Schlafittchen packen. Da werden die Versäumnisse aus vierzig Jahren den Zuwanderern an die Hacken gehängt.

Woher soll das Geld für Integrationskonzepte kommen?

Auf Bundesebene gibt es bereits jetzt rund 320 Millionen Mark an Sprachfördermitteln. Unser Integrationskonzept für Neuzuwanderer verbindet Sprachangebote mit Orientierungskursen. Wenn man die Länder einbezieht, müssten die Mittel gar nicht so wahnsinnig erhöht werden.

Wie sieht es mit der Kultur- und Bildungspolitik aus?

Es gibt Schulklassen, in denen 80 Prozent der Kinder Deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben. Am Ende zieht auch das letzte deutsche Kind weg, weil die Eltern Angst um seine Bildungschancen haben. Wenn da nicht sozialer Sprengstoff anwachsen soll, müssen in diese Schulen und Kindergärten mehr Ressourcen. Wenn wir eine Einwanderungsgesellschaft sind, müssen wir die Zuwanderung im Interesse des sozialen Friedens auch sozialpolitisch begleiten. Daher müssen wir begreifen, dass die Schwierigkeiten, die Einwanderung mit sich bringt, ganz besonders stark auch soziale Fragen sind.

Die derzeitige Diskussion dreht sich vor allem um Neuzuwanderer. Der Familienbericht mahnt aber an, diejenigen stärker einzubinden, die bereits hier sind.

Bei solchen gesellschaftlichen Debatten kommt es immer darauf an: Was ist hipp, was kann die Talkshows befruchten? Da war die Debatte über die Computer-Inder natürlich viel spannender. Da dachte man an Esoterik, Buddhismus . . . Die Frage, wie wir türkische Migranten in der Bildungsschleife qualifizieren, ist trockener. Mit unserem Begriff „Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung“ können wir keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken.

In den Niederlanden war der öffentliche Dienst Vorreiter für die Integration. Müssten Sie Ihr Augenmerk nicht stärker auf diesen Bereich lenken?

Da haben wir in Deutschland eine ganz schlechte Bilanz: Bei einem Ausländeranteil von 9,3 Prozent sind nur 3 Prozent der Migranten im öffentlichen Dienst beschäftigt. Das sind gesellschaftliche Prozesse, die jetzt mit Macht vorangetrieben werden müssen.

Seit dem 1. Januar 2001 können Asylbewerber nach einem Jahr Wartezeit arbeiten – wenn sich kein Deutscher für den Job findet. Ist die Regelung nicht sehr halbherzig ausgefallen?

Wir haben ein riesiges Problem: Obwohl wir anerkennen, dass eine wachsende Zahl der Asylbewerber nicht in ihre Heimat zurückgehen kann, machen wir ihnen die Tür nicht wirklich auf. Die Menschen werden hier oft über sechs oder zehn Jahre nur geduldet und haben immer das Nachrangigkeitsprinzip an der Hacke – ob nun bei der Suche nach Arbeitsplatz oder Lehrstelle. Wir können aber kein Interesse daran haben, etwa 300.000 Menschen am ausgestreckten Arm zu halten. Hier haben wir Potenziale, also nutzen wir sie.