Architektur und Klangkonstrukt

Der Avantgarde-Komponist Iannis Xenakis versöhnte Wissenschaft und Kunst in seiner Person. Ein Nachruf

Die bedrohliche Signalwirkung, die von der Uraufführung der „Metastasis“ ausging, leuchtet noch heute in dunklen, kräftigen Farben. Das kurze Stück, das 1954 in Donaueschingen erstmals öffentlich aufgeführt wurde, entfächert den Orchesterklang in lang gezogenen, schleifenden Wellen. Angesichts der damals, in den Fünfzigerjahren, vorherrschenden Ästhetik, bei der Musik regelmäßig im Pointillismus zerbröckelte, musste diese Musik eines jungen griechischen Architekten wie ein Affront erscheinen.

Mit „Metastasis“ konnte Iannis Xenakis die Grundzüge seines schöpferischen Denkens gleich zu Beginn seiner Laufbahn als Komponist bleibend markieren: die Befähigung zu urgewaltigen Klängen, die Weigerung, sich den musikalischen Strömungen seiner Zeit unterzuordnen, und einen bedingungslosen Willen zur mathematisch-naturwissenschaftlichen Basis seines Komponierens. Denn „Metastasis“ basiert, wie fast alle späteren Werke, auf Rechenschemata – in diesem Falle sind es Hyperbelkonstruktionen, die Xenakis für einen Pavillon der Weltausstellung von 1958 angefertigt hatte.

Das Komponieren scheint bei Xenakis zunächst nur ein Nebenprodukt gewesen zu sein. Der 1922 in Rumänien geborene Grieche studierte in Athen Musik nur neben seinem Hauptfach Architektur. Und auch nachdem er 1947 das vom Bürgerkrieg geplagte Griechenland in Richtung Paris verlassen hatte, spielte die Architektur die tragende Rolle in seinem Leben: Von 1948 bis 1960 arbeitete er als Assistent von Le Corbusier.

Und trotzdem scheint sich irgendwann alles in Klang verwandelt zu haben: Den klingenden Bauplänen der 50er-Jahre folgten bald spieltheoretische Entwürfe und – mehr noch – ausufernde stochastische Rechnungen. Die Stochastik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung avancierten schließlich zu Xenakis’ bevorzugten Gestaltungsoperatoren.

Einen ersten Höhepunkt erfuhr diese Entwicklung mit den stochastischen Kompositionen der 60er-Jahre, „ST/4“, „ST/10“ und „ST/48“, die allesamt von einem Computerprogramm komponiert wurden. Mit seiner monströsen Software UPIC gelang es Xenakis 1979 schließlich, zeichnerische Vorgänge unmittelbar in Musik zu verwandeln.

Die schweren Bücher, mit denen die Xenakis-Forschung musikwissenschaftliche Bibliotheken schmückt, ließen sich ebenso gut in der mathematischen Abteilung unterbringen. Trotzdem verlieren sich diese Werke niemals in sprödem, versachlichendem Wissenschaftsduktus. Stattdessen gelang es Xenakis, das archaische, urgewaltige Moment der Klangwirkung mit oft unbändiger Rhythmizität zu wecken – das gilt für die monströsen Partituren wie die Ballettmusik „Kraanerg“ (1968) ebenso wie für die kammermusikalischen Schlagzeugwerke, die in den Siebzigerjahren entstanden.

Erst in seinen späteren Stücken wandte sich Xenakis vermeintlich schlichteren Zusammenhängen musikalischen Inhalts zu. In Werken wie dem Antikriegsstück „Pour la Paix“ (1981) werden erstmals Muster offenbar, die offensichtlich im sezierenden Umgang mit den Parametern der Musik entstanden sind.

Zuletzt erfuhr Xenakis Anerkennung auch von ambitionierten Pop-Heroen: Künstler wie DJ Spooky oder Add (N) to (X) ließen den Namen des Wahlparisers gerne fallen, um die gebildete Weite ihres musikalischen Horizonts unter Beweis zu stellen.

„Meine Überzeugung ist es, dass wir zum Universalismus nicht durch Religion, Emotion, Tradition gelangen, sondern durch die Naturwissenschaften“, fasste Xenakis einmal sein ästhetisches Kredo zusammen. Und er ergänzte: „Das wissenschaftliche Denken gibt mir ein Instrument an die Hand, mit dem ich meine Vorstellung nichtwissenschaftlichen Ursprungs verwirkliche. Und diese Vorstellungen sind Produkte gewisser Intuitionen und Visionen.“

In einem von Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften geprägten Jahrhundert war Xenakis vielleicht der Einzige, dem es gelang, diese Zweifel auszuräumen und Kunst und Wissenschaft zu versöhnen. Iannis Xenakis starb am Sonntagmorgen 78-jährig in seiner Wohnung in Paris an den Folgen einer langen Krankheit. BJÖRN GOTTSTEIN