Volle Kübel dank Kuhkomfort

Die Landwirtschaft in Zeiten des Rinderwahnsinns: Die Seuchenangst ist da, doch die Politik ist weit. Eine Landpartie in Gummistiefeln zu ausgewählten Bauernhöfen in der nahen Umgebung von Berlin

von VOLKER WEIDERMANN

Stefan Schmücker sitzt in einem weißen Bürocontainer an seinem Schreibtisch und raucht. Die Wände sind aus weißem Kunststoff. Der Schreibtisch, das Sideboard, der kleine Couchtisch auch. Hinter ihm an der Wand hängt ein Elchgeweih. Schmücker ist Leiter des Berliner Stadtguts Wansdorf, etwa zehn Kilometer nördlich der Hauptstadt in Brandenburg gelegen. Er ist Herr über 650 Kühe – 300 Jungrinder und 350 Milchkühe. Sein Lieblingswort: Kuhkomfort.

„Nur eine Kuh, die sich rundum wohl fühlt, gibt auch gute Milch“, sagt Schmücker. Als wir später die neuen Ställe besichtigen, wird klar, was er meint: Lichte Holzkonstruktionen sind hier neben den alten, grauen, verfallenden Steinställen im letzten Jahr entstanden. Sie haben keine Wände, das Dach wird von starken Holzstelen getragen. Im Stall ist es so kalt wie draußen. Vielleicht zwei Grad. „Bei der Temperatur fühlen sich die Tiere am wohlsten“, meint Schmücker. Wird es kälter oder kommt Wind auf, senken sich vorne und an den Seiten computergesteuerte, transparente Wände lautlos hinab. „Um eine annähernd konstante Temperatur zu ermöglichen.“ Die Kühe laufen frei umher und lassen sich von den beiden Besuchern ruhig und gelassen beiseite schieben.

Zu fressen gibt es dies und das: Auch Kraftfutter, auch zugekauftes Futter. Das Stadtgut Wansdorf ist kein Ökohof. Auf den Feldern werden Pestizide eingesetzt, Fungizide, Stickstoff. Die groben Richtlinien für die zehn Berliner Stadtgüter beschließen nicht die Gutsleiter, sondern der Senat und die Betriebsgesellschaft der Stadtgüter. Das Land Berlin will seine Güter bis Ende des Jahres verkaufen. Ökoausrichtung stört da, trotz des aktuellen politischen Richtungswechsels. „Die Chancen, einen Investor zu finden, sind mit einer traditionellen Landwirtschaft immer noch wesentlich größer“, sagt Schmücker.

Auch wenn es sein eigener Hof wäre, würde er nicht auf Bio setzen. Der Kostendruck sei enorm. Verzichte er auf Pestizide, büße er etwa ein Drittel seines Ernteertrags ein. Verzichte er auf Kraftfutter, gäben die Kühe statt zurzeit 9.000 Litern Milch im Jahr vielleicht nur noch 5.000 Liter. In den acht Jahren, die er Gutsleiter ist, hat sich das Gut mühsam auf „die schwarze Null“ zubewegt. Im vergangenen Jahr wurden hier 1,5 Millionen Mark in die Ställe und eine hypermoderne Melkanlage investiert. „Das muss erst mal wieder rein.“

Stefan Schmücker ist ein stolzer Mann. 1989 hat er als Meister der Milchwirtschaft im volkseigenen Betrieb Wansdorf angefangen, Anfang 93 wurde er zum Gutsleiter ernannt. 37 Jahre, grau meliertes Haar, stapft er in dunkelgrüner Winterweste beharrlich deutend und erläuternd von Stall zu Stall, gibt dem ahnungslosen Städter geduldig bäuerliche Basisinformationen weiter, und nur ein Wort kann ihn in Rage bringen: „Agrarfabriken“.

„Die soll er mir mal zeigen, diese Agrarfabriken“, grollt er in Richtung Kanzleramt. „Soll sagen, was er damit gemeint hat. Der war doch noch nie auf einem Hof.“ Populismus, Ahnungslosigkeit, Unsinn. Schmücker ist auf Politiker nicht gut zu sprechen. Die Bauern hätten sich immer brav nach den Vorgaben der Politik gerichtet, und jetzt stehle sich die Politik aus der Verantwortung und gebe den Bauern die Schuld. Aber ohne ihn. Ohne Stefan Schmücker.

Und ohne Heiner Lüttke-Schwienhorst. Obwohl ihm die neue regierungsamtliche Öko-Begeisterung eigentlich gefallen müsste. Schwienhorst ist Biobauer auf dem Gut Ogrosen im südlichen Spreewald, hundert Kilometer südöstlich von Berlin. Aber Schröders Natur-Aktionismus ist ihm „unheimlich“, weil der so gar nicht den eigentlichen Kanzler-Überzeugungen zu entsprechen scheint. Der Industrie-, der Fortschrittsbegeisterung, der Liebe zum Großen, Leistungsstarken. „Ökologischer Landbau heißt auch, Schritte zurückzugehen.“ Das ist nicht Schröder-Art. Und seine Biofreuden werden schnell vergessen sein.

Heiner Lüttke-Schwienhorst schweigt und schaut aus dem Fenster in der Wohnküche hinaus in den Park. Ein großer, verwilderter Park mit kleinen, verwachsenen Alleen und zwei zugefrorenen Teichen. „Im Frühjahr wollen wir den Park neu anlegen lassen. Nach neuen Plänen. Ein neuer Park.“ Er und seine Frau Toni haben äußerlich nicht viel verändert an dem großen Gut, nachdem sie vor zehn Jahren aus dem Münsterland nach Ogrosen kamen und das Gut zurückkauften, das bis zur Enteignung 1945 Toni Lüttkes Großeltern gehört hatte. Heiner Lüttke-Schwienhorst war damals Vertreter für das Bioprodukt „Kanne-Brottrunk“. „Das war auch eine gute Arbeit“, sagt er. Vorher hatte er eine Landwirtschaftslehre gemacht, auf dem elterlichen Hof; dann Landwirtschaft studiert, aber nie als selbstständiger Bauer gearbeitet.

Und dann kam das plötzliche Glück. Das Gut Ogrosen ist heute eine winterliche Idylle, ein Landtraum in Grau und Weit und Weiß, bei dessen Anblick man jede Massentierhaltungshysterie und Seuchenpanik vergisst. Eine große Ruhe liegt hier über allem, eine majestätische Einsamkeit über dem riesigen Gutshof in abblätterndem Grau, dem mit einem rostigen Eisengitter umfriedeten Brunnen davor, dem kleinen Inspektorhäuschen daneben, dem kleinen Stall für die Streichelzootiere und den Wegen, die auf die Felder, in den Park, in die Ställe führen.

Die Ställe sind groß und hell. Auch hier laufen die Kühe frei herum, wenn es auch keine computergesteuerte Windschutzwandanlage gibt. Aber dafür einen extra Ruhe- und Wiederkäuerstall, eine Art Relaxingzone mit Kuh-Wellness-Bereich, gleich neben dem Speisestall. Der ist ganz mit Stroh ausgelegt, und an der Wand rotiert ein blaues Bürstenarrangement, das aussieht wie die Zottelrollen einer Autowaschanlage – der unter den Kühen sehr beliebte Massageplatz, wie Bauer Lüttke-Schwienhorst erklärt. Im Moment steht unter der 250-köpfigen Kuhherde aber gerade reine Entspannung und Wiedervorlage des zuletzt verspeisten Heus auf dem Plan.

Bei Lüttke-Schwienhorsts derweil: Mittagessen. Kürbissuppe und Kartoffeln mit Quark und Roten Beten und Krautsalat und Apfelsaft und Hirseschaumtraum. Die drei Söhne, Lukas, Friedrich und Johann, zwischen zehn und dreizehn Jahre alt, kommen nach und nach aus der Schule im Nachbardorf. Berichten von den neuesten Ergebnissen („Geschichtstest ‚Drei plus‘. Aber im Zeugnis komm ich auf ne Eins, wetten?“ – „Okay. Ich wette“) und neuesten Entwicklungen im „Big Brother“-Container und von einer aktuellen Friseur-Doku, was sie alles zwar, ehrlich gesagt, nicht selbst gesehen haben („Wir dürfen nicht so richtig viel fernsehen“), worüber sie aber dank Pausengesprächen recht flüssig zu berichten wissen. „Wir ham hier ja mehr so Biofernsehen. Höhö.“ Scheinen es aber auch nicht wirklich zu vermissen.

Die BSE-Krise macht Heiner Lüttke-Schwienhorst nicht wirklich Sorgen. Seine Milch verkauft er für einen guten Preis an eine Biomolkerei in Rostock, und Fleisch und andere Produkte von angeschlossenen Biohöfen des Gutes verkaufen sie im Hofgeschäft und auf Märkten in Berlin und Brandenburg. Kein Absatzproblem, keine Seuchenpanik.

Die gibt es in der Agrargenossenschaft Schmachtenhagen dagegen schon. Der dunkle Kälberstall, der eigentlich für achtzig Jungtiere ausgelegt ist, ist mit fast doppelt so vielen Kälbern extrem überbelegt. Die Preise sinken. Von 420 Mark vor Weihnachten auf 150 Mark im Moment. Und trotzdem sind die Kälber nicht zu verkaufen, müssen weiter gefüttert werden. Der sechzigjährige Produktionsleiter Siegfried Waligora, der gerade eine Besuchergruppe aus Sachsen mit dem so genannten Eierexpress, einer stinkenden, lärmenden Dieselbahn, durch die Ställe fährt, schaut sorgenvoll. Zwischendurch stoppt er immer mal wieder den Zug, stellt den Motor ab, um im Stall per Handy eine Kuhverkaufsverhandlung zu führen. Aber die Gespräche scheinen unerfreulich zu sein. Waligoras Sorgen bleiben groß.

Er plaudert dann wieder routiniert über die 800 Kühe, („Abgang von 30 Kühen im Monat“), 2.000 Legehennen, 250 Gänse, „einen kleinen Durchgang Broiler“ und 60 „abgehende“ Mastschweine im Monat. „Wir sind ein mittelgroßer Hof“, sagt Waligora, auch wenn die regelmäßigen Besucher aus dem Allgäu immer wieder sagten, „wir seien ein Riesenhof“. Die Zukunft gehöre den mittelgroßen und großen Höfen, ganz klar. Da reiche ein kurzer Blick nach Amerika, um das zu erkennen. „Wir sind gewappnet für den Wettbewerb.“

Nach der Wende wurde die LPG Tierproduktion Schmachtenhagen privatisiert. Von 145 Beschäftigten blieben 26, darunter Waligora. Man ging einen Knebelvertrag mit einer Molkerei ein, die sich zu monatlich neu festgesetzten Preisen eine festgelegte Menge Milch zusichern ließ. „Wir waren blauäugig. So viele Schlitzohren gab es bei uns nicht.“ Aber aus der Not machte Waligora zusammen mit dem Geschäftsführer Siegfried Mattner eine Tugend, baute eine eigene Molkerei, Käserei und schließlich einen großen Bauernmarkt auf, wo sie einen Teil der eigenen Produkte direkt verteiben. Mit einigem Erfolg. Am Wochenende kommen bis zu 3.000 Besucher und Käufer. Dann steht der Eierexpress des Schaubauernhofs nicht still. Die Menschen seien zufrieden, heißt es. „Nur Wessi-Journalisten schreiben nörgelnde Berichte, weil sie mal Schlange stehen müssen.“

Vielleicht auch, weil die Agrargenossenschaft Schmachtenhagen für einen Schaubauernhof mächtig deprimierend und heruntergekommen wirkt. Die Ställe alt und eng und dunkel, die Kühe liegen auf dem nackten Beton, der Dieselzug lärmt hin und her, der Bauernmarkt ist ein grauer Riesencontainer neben einem Getränkegroßmarkt auf dem flachen Land. Keine Landidylle. Mehr so eine Wurst- und Käseabholanlage mit traurigem Anschauungsmaterial. Den Kühen fehlt hier der Komfort. „Sind die Hühner glücklich?“ sei die Lieblingsfrage der Besucher, die ihre Eier selbst aus den Massennestern holen, spottet Siegfried Waligora. „Nee, sind se nicht“, antwortet er dann. „Denen fehlt der Hahn.“ Siegfried Waligora dagegen fehlt die Gelassenheit in der Krise. Aber da ist er auch schon wieder mit seinem Eierexpress und einer schwedischen Besuchergruppe im nächsten Stall verschwunden.