Die Chancen vertan

Im Nahen Osten gibt es kaum Hoffnung auf eine Lösung – und auch nach den Wahlen wird der Frieden an zwei Fragen scheitern: an Jerusalem und dem Flüchtlingsproblem

Die arabische Welt im Rücken, fordern die Palästinenser alles – und werden nun vorerst nichts bekommen

„Ich glaube, wir sind alle verrückt geworden“ – so resignierte kürzlich ein israelischer Freund aus Jerusalem mit Blick auf die politischen Entwicklungen in seinem Land. Er meinte nicht nur die eigenen Landsleute, sondern auch die Palästinenser. Vorbei sind die Zeiten, wo es eine halbwegs friedliche Koexistenz gab. Besonders makaber ist, dass die Zeiten der gut nachbarschaftlichen Beziehungen vor dem Oslo-Abkommen vom September 1993 lagen und dass die Beziehungen sich immer weiter verschlechterten, je länger man über die Umsetzung dieses Abkommens verhandelte. Und dass die endgültige Eskalation begann, als in Israel ein Mann die Regierung übernommen hatte, der versprach, den Friedensprozess zu beschleunigen, und der auch bereit war, schmerzhafte Konzessionen dafür anzubieten. Ehud Barak ist gescheitert und mit ihm – vorerst zumindest – der Versuch, Frieden zu stiften mit den Palästinensern. Bei den Wahlen wird Barak dafür die Quittung erhalten.

Barak einen solchen „Denkzettel“ zu verpassen, erinnert aber fatal an schwarzen Humor: „Geschieht ihm doch ganz recht, wenn es mir schlecht geht.“ Und es zeugt von politischer Unreife, dass eine Wahl so wenig von Sachargumenten beeinflusst werden sollte. Im friedensverwöhnten Westen mag man sich solchen Luxus ja noch leisten können. Aber im Nahen Osten? Wo Jahrzehnte des Kriegszustandes beendet werden sollen und wo doch immer noch tagtäglich Menschen umkommen.

Dieser Konflikt war einst geprägt von Ideologie: auf der einen Seite Zionismus mit seinen Ansprüchen auf einen Teil des historischen Palästinas oder auch das gesamte Gebiet. Und auf der anderen Seite die Ablehnung desselben und die Forderung nach einem palästinensischen Staat anstelle Israels. Mit dem Oslo-Abkommen schien man zum ersten Mal diese Barrieren überwunden zu haben: Beide Seiten sahen offenbar ein, dass man einander nicht los wird und deswegen miteinander leben und miteinander Kompromisse schließen muss.

Das schien gut zu gehen, solange man nicht ans Eingemachte ging. Sieben Jahre lang befand man sich mehr schlecht als recht auf dem Weg zum Frieden. Termine wurden nicht eingehalten, Versprechen nicht eingelöst, aber man verhandelte und arbeitete zusammen. Je näher aber der in Oslo gesetzte Termin für die Abwicklung des Abkommens (im September 2000) rückte, desto deutlicher wurde, dass man eigentlich keine Fortschritte gemacht hatte – und immer noch den alten Träumen anhing und anhängt, die einer längst verflossenen Zeit angehören sollten. So waren und sind Palästinenser wie Israelis nicht zu den notwendigen Konzessionen in den Kernfragen des Konflikts bereit, die man auf zwei Punkte reduzieren kann: Jerusalem und das Flüchtlingsproblem.

Dass Jerusalem nicht wieder geteilt werden kann und soll – das müsste allen Beteiligten klar sein. Ebenso aber auch, dass keine Seite der anderen die Oberhoheit über ihre heiligen Stätten abtreten wird. Also muss ein Kompromiss gefunden werden, der zumindest in der Jerusalemer Altstadt nur ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Zuständigkeiten bedeuten kann. So, wie Ehud Barak das in Camp David vorgeschlagen und Bill Clinton es Anfang des Jahres erneuert hat. Nur: In religiös-nationalistischen Kreisen Israels löste dies einen Sturm der Entrüstung aus, der schließlich zu den Wahlen und dem Machtwechsel führte. Und auch die Palästinenser sind damit nicht einverstanden. Die islamische und arabische Welt im Rücken, fordern sie alles und werden nun – vorerst zumindest – nichts bekommen.

Auch die Frage des Rückkehrrechtes der Flüchtlinge ist eine Absurdität: Natürlich haben unzählige UNO-Resolutionen über die Jahrzehnte hinweg das Recht der Flüchtlinge von 1948 unterstrichen, in ihre Heimat zurückzukehren. Seit Israelis und Palästinenser sich aber in Oslo zumindest prinzipiell darauf geeinigt haben, künftig in zwei Staaten nebeneinander zu leben, kann die Rückkehr doch nur bedeuten: in den künftigen palästinensischen Staat. Von Israel zu erwarten, dass es einer massiven Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 und deren Nachfahren nach Israel selbst zustimmt, ist wegen der damit verbundenen demografischen Verschiebungen ebenso unrealistisch wie die Annahme, dass die Flüchtlinge dazu überhaupt bereit wären: Viele würden bleiben, wo sie sind. Wenn man sie ließe. Und wenn das unmöglich ist, dann wollen sie in einem eigenen palästinensischen Staat leben.

Und der heißt nun einmal nicht Israel. Es sei denn, man hängt eben doch dem alten Traum an, den zum Beispiel der Mufti von Jerusalem offen ausspricht: Die Juden sollten dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind. Wer so spricht, der hat nichts hinzugelernt.

Aber solche Sprüche sind heute wieder populär. Es entbehrt nicht einer gehörigen Portion Zynismus, wenn auch Palästinenserpräsident Jassir Arafat der Regierung Barak in Davos faschistisches Verhalten gegenüber den Palästinensern vorwirft. Arafat weiß sich der moralischen Unterstützung der Welt sicher, die Israels Reaktion auf die „Al-Aksa-Intifada“ als übertrieben verurteilt. Aber es ist und bleibt eine „Reaktion“, es ist nicht ein „Angriff“ auf die Palästinenser, wie Arafat es gerne hinstellt. Scharons Besuch auf dem Tempelberg Ende September war der Auslöser dieser Intifada, ohne Arafats Zutun wäre daraus aber kein Beinahe-Krieg geworden.

Der Palästinenserführer hoffte – und hofft – offenbar, dass das Ausland eingreifen und Israel zur Räson bringen wird. Bestärkt durch den Machtwechsel im Weißen Haus und – auch das recht makaber – durch den bevorstehenden Machtwechsel in Jerusalem: Wenn erst einmal Scharon daran geht, seine angekündigte harte Politik gegenüber den Palästinensern durchzusetzen, dann werde die Außenwelt doch wohl endlich eingreifen ...

Je länger das Osloer Friedensabkommen umstritten war, desto schlimmerwurde die Lage

Das wird sie sicher nicht tun. Man wird sich auf gute Ratschläge beschränken und neue Resolutionen. Denn an einer Wahrheit wird man auch nach der Wahl nicht vorbeikommen: Frieden ist kein Waffenstillstand, und er kann deswegen nicht von außen verordnet werden. Er muss von innen kommen. Dazu aber ist heute weniger Bereitschaft auf beiden Seiten zu sehen als in den letzten Jahren. Unter Ariel Scharon wird der Frieden mit Sicherheit nicht größere Chancen haben als unter Ehud Barak – und das nicht zuletzt wegen der chaotischen Machtverhältnisse im israelischen Parlament. Diese werden es selbst Scharon schwer machen, unbehindert zu regieren. Und Parlamentswahlen innerhalb der nächsten Monate werden deswegen jetzt schon nicht ausgeschlossen.

Dies mag am Wahltag der einzige Lichtblick sein. Sonst aber überwiegt das Dunkel. Vertane Chancen, enttäuschte Hoffnungen und ein immer schwerer werdender Neubeginn. Und das alles für einen Denkzettel, weil mit Barak endlich einmal einer gesagt hatte, was längst schon hätte gesagt werden müssen? Wer das glaubt, der muss ganz schön verrückt sein ...

PETER PHILIPP