Kontrolliert die Gase!

■ Der Arzt Heinz-Christian Wilkens hat den Arztroman „Aus dem Lot“ verfasst. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen. Denn der Text torkelt durch diverse Genres, Bettgeschichten und Fachtermini. Andererseits jedoch ...

Ärzte heißen Dr. Markus Marin oder so, sehen fantastisch aus, haben volles Haar und einen schnittigen Cabriolet, auf dessen Beifahrersitz immer eine wohl temperierte Flasche Champagner und 20.000 frische rote Rosen griffbereit liegen. Mindestens fünfmal am Tag retten sie Leben. Den klinisch toten Mopedfahrer holen sie in einem dramatischen Wettlauf gegen die Zeit ebenso wieder zurück wie die lebensmüde hübsche Frau mit dem beachtlichen Apothekensortiment im Magen. Zwischen zwei OP-Terminen verliebt sich Dr. Markus Marin oder so in knapp eine Milliarde turbo-attraktive Krankenschwestern, hat auf exotischen Wasserbetten mit der Hälfte von ihnen sensationellen Sex, um am Ende des Arztromans zu erkennen, dass die ehemals lebensmüde hübsche Frau aus Zimmer 605 doch die bessere Mutter für die beiden vollhaarigen, fantastisch aussehenden Jungs ist, die sich schon bald durch Dr. Marins oder so exklusive Penthouse-Wohnung kugeln werden.

Doch selbst im tumbesten Leser keimt mit der Zeit ein leiser Zweifel: Stimmt das denn alles? Liegen auf dem Beifahrersitz des rostigen Golf nicht ernüchternd oft eher eselsohrige Krankenakten statt prickelnder Schampusflaschen? Gibt es nicht auch sehr viele unansehnliche OP-Schwestern? Und: Heißt wirklich jeder Arzt in Deutschland Dr. Markus Marin oder so?

Die Zweifel sind berechtigt, sagte sich der Arzt und Psychothearapeut Heinz-Christian Wilkens und hat deshalb nun den biografisch authentisierten „anderen Arztroman“ namens „Aus dem Lot“ geschrieben. Auf 408 Seiten begleiten wir an einem norddeutschen Krankenhaus Dr. Hans-Wilhelm Templer auf seinem steinigen Weg vom Oberarzt zum leitenden Oberarzt, vorbei an missgünstigen KollegInnen, dubiosen Chefs und dem ein oder anderen Verschluss des Ductus arteriosus Botali, der bei Neugeborenen bekanntlich zu intrakraniellen Blutungen führen kann. Templers spröder Alltag pendelt zwischen morgendlichen Rasuren bei Chris de Burgh-Liebesliedern, ewig langen Arbeitstagen zwischen Schlafpritsche, Skalpellablage und jenen langen öden Single-Abenden, an denen selbst eine Joe-Cocker-CD zum Lichtblick werden kann.

Sowas interessiert natürlich kein Schwein, schon gar nicht romanlang, weshalb Wilkens inmitten dieser beruflichen Tristesse so manche abenteuerliche Blüte hat sprießen lassen. Eine attraktive Komapatientin wird plötzlich schwanger, ein trinkfester Kommissar sucht per Computerprogramm den Täter, eine blasse Mitschülerin entpuppt sich bei einem Klassentreffen 20 Jahre später als blonder Vamp mit aufregendem Dekolleté, und der 44-jährige italophile Templer kämpft mit schwerwiegenden medizinisch-ethischen Fragen rund um die klinisch tote Schwangere, der Midlife-Crisis, einer aufdringlichen Pressemeute und seiner Oma, die so manches dunkle Familiengeheimnis hütet.

Zwischen Krimi, Liebesgeschichte und Krankenhaus-Milieustudie torkelt der Text durch diverse Genres und sucht die Abgrenzung zum bloß unterhaltenden Trivialroman unter anderem durch den ausgiebigen Einsatz medizinischen Fachvokabulars. Das beschert dem Buch nicht nur spannend-authentische Krankenhaussätze wie „Laßt noch –ne Ringer laufen, stellt den PEEP auf plus 8 ein und kontrolliert regelmäßig die Gase“, sondern auch ein dreiseitiges Glossar, wo der Kauderwelsch erklärt werden muss.

Wilkens Probleme, einen lesbaren Roman unabhängig von seinen sonstigen Professionen zu schreiben, offenbart sich auch in den zahllosen Konflikten mit Vorgesetzten, Familienangehörigen oder der blonden Psychologin Charlotte, die druckreif über Strategien zur Kanalisierung primitiver Impulse dozieren kann und zeitgleich vorsichtig Templers Glied massiert. Kaum ein Dialog, der nicht so hölzern wirkt wie aus dem psychotherapeutischen Lehrbuch, kaum eine Missstimmung, die nicht sofort in vorbildlicher Art angesprochen, bearbeitet und aus dem Weg geräumt wird. Nicht einmal erröten kann Templer einfach so, sondern nur versehen mit der physiologischen Erläuterung: „Diese vegetative Reaktion lief einfach ab, ohne sich seinem Willen zu unterwerfen.“

Andererseits: Ich habe „Aus dem Lot“ aus freien Stücken bis zum Ende gelesen und mich dabei nicht einmal übermäßig gelangweilt. Warum das so war? Keine Ahnung. – Ein klarer Fall für Dr. Templer!

Franco Zotta

Heinz-Christian Wilkens: Aus dem Lot, Bremen 2000, Hauschild-Verlag, 39,80 Mark