Engel blicken auf die Stadt

In Hubertus Siegberts Dokumentation „Berlin Babylon“ (Panorama) bilden die altbekannten Baustellen am Potsdamer Platz eine Art psychedelische Vorhölle als Real-Life-Kulisse für Stararchitekten, Investoren und Poliere

Früher rief Mutti immer: „Mittag ist fertig!“ Dann sprangen die Kinder von der Straße flugs nach Hause und freuten sich auf Spagetti. Heute ruft der Kanzler: „Die Mitte ist fertig!“ Dann springen die Architekten in ihre Flugzeuge und bauen woanders weiter. Zurück bleibt ein Berlin, ganz nach Masterplan – Blockbebauung und Traufhöhenauflagen inklusive. Aber wie sieht eine Traufhöhe aus? Hubertus Siegbert weiß es, immerhin ist er vier Jahre lang mit Hubschraubern und Straßenbahnen unterwegs gewesen, um für „Berlin Babylon“ die neue Hauptstadt zu filmen. Nebenbei hat er die erste Dokumentation zur Architektur in Berlin gedreht, die nicht nur über Stadtplanung als urban entertainment philosophiert, sondern selbst sehr entertaining ist.

Tatsächlich überlagern sich bei Siegberts dokumentarischem Ansatz Fiktion, Baustellen-Action und die Psychodynamik, mit der Developer, Architekten und politische Entscheidungsträger sich gegenseitig anspornen. Offenbar sind die Akteure der Bauindustrie auch als Schauspieler gut zu gebrauchen: Der Immobilienunternehmer Hans Grothe gibt im zerknitterten Trenchcoat eine passable Manfred-Krug-Kopie ab, während er seine Angestellten zurechtweist. Dagegen wankt Helmut Jahn mit Lederhut als Midnight-Cowboy über die Baustelle am Potsdamer Platz, und Joseph Paul Kleihues erinnert an Heinz Rühmann, wenn er für ein neues Stadtschloss schwärmt. Selbst der namenlose Polier erlebt bei Siegbert seine Schicht noch als Thriller zwischen Kränen.

Der Umbau von Berlin: Investment-Drama oder Real-Life-Soap? Schon zu Beginn blökt Axel Schultes in Großaufnahme ins Handy, weil er sich über die Ängstlichkeit der Bundesregierung ärgert. Für ihn sind vier Millionen Mark Mehrkosten beim Bau des Kanzleramtes lächerlich, wenn er bedenkt, um wie viel Geld die Architekten in der Antike ihr Budget überzogen haben dürften.

Später steht Schultes mit der ehemaligen Senatsbaudirektorin von Berlin, Barbara Jakubeit, vor einem gewaltigen Modell der City und macht sich lustig über die halbherzigen Projekte an der Friedrichstraße. Währenddessen starrt man auf die sandfarbene Holzmaquette, denkt an Albert Speers Pläne für „Germania“ und freut sich, dass Berlin doch eher Babylon geworden ist: ein wirrer Bau, an dem unzählige Planer so lange gefeilt haben, bis keine einheitliche Handschrift mehr zu erkennen ist. Nur die glatten Häuserfronten ziehen sich immer wieder aus der Vogelperspektive wie Linealkanten am Pariser Platz und Unter den Linden dahin.

Siegbert mag solche Fahrten, bei denen die Kamera unendlich langsam an den Blöcken entlangkriecht, bis der Zuschauer selbst den Potsdamer Platz noch als psychedelische Drogenarchitektur wahrnimmt. Es ist ein ständiges Schweben, für das neben Ralf K. Dobrick auch Thomas Plenert engagiert wurde, der schon für Volker Koepp gearbeitet hat. Als Vorbild diente Siegbert allerdings das Material der britischen Alliierten, die 1945 vom Jeep aus wie Flaneure zwischen Ruinen das zerbombte Berlin abfilmten. Und auch das alte Schloss sieht man noch einmal stumm zusammenstürzen –in schwarzweiß.

Dermaßen historisch gewappnet, kommt der studierte Geschichtswissenschaftler Siegbert wohl zwangsläufig zu Walter Benjamins Engelgleichnis und zum Schutt der Vergangenheit, auf dem sich Berlin so perfekt bauen lässt. Dann wird eingeweiht am Potsdamer Platz, mit Folklore, Ringelreihen und Vaterunser.

Vorher schon hat man die Stimme von Blixa Bargeld gehört, der sich in einem Song der Einstürzenden Neubauten Gedanken über „die Befindlichkeit des Landes“ macht. Selten waren sich Musik und Bilder so einig wie in „Berlin Babylon“. Man muss nur Bargeld zuhören: „Die neuen Tempel haben schon Risse / künftige Ruinen / einst wächst Gras auch über diese Stadt / über ihrer letzten Schicht“.

HARALD FRICKE

„Berlin Babylon“. Regie: Hubertus Siegbert, D 2000, 88 Min.