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Im Auge des Tigerweibchens

Zen oder die Kunst, schön und verletzbar zu bleiben: In „Girlfight“ wird der Boxring zum Ort der Charakterbildung, auf kaputtgeschlagene Gesichter in Zeitlupe muss man dagegen verzichten. Die amerikanische Regisseurin Karyn Kusama schafft mit ihrem Debüt neue Regeln für das Genre des Boxfilms

von RAINER GANSERA

Wenn das Kino in den Boxring steigt, erzählt es üblicherweise heroische oder tragische Männergeschichten. Der Held wird – wie Sylvester Stallones „Rocky“ – zum triumphalistischen Denkmal oder, wie Martin Scorseses „Raging Bull“, zur mit religiösem Dekor versehenen Schmerzensikone. Boxen ist Männersache. Frauen interessieren sich nicht für das Boxen, sondern – wenn überhaupt – für die Boxer. In Boxfilmen sitzen Frauen am Ring, dürfen zuschauen, den Atem anhalten, mitleiden, aufschreien und ihr Gesicht in den Händen begraben. Gerade wenn sie den Boxer lieben, hassen sie das Boxen.

In Robert Wise’ „Somebody up there likes me“ beschimpft die schöne Pier Angeli Boxchampion Paul Newman: „Ach, dieses Boxen: Es ist so gemein, so blutig und so roh!“ In „Girlfight“ ist alles ganz anders: Da steigt eine junge Frau in den Ring und entdeckt die Welt des Boxens als ihre eigene; da führt eine Frau Regie, die selbst schon geboxt hat und das Boxen „eine der letzten großen, reinen Sportarten“ nennt.

„Girlfight“ ist der Debütfilm der 32-jährigen New Yorkerin Karyn Kusama; eine Independent-Produktion, die auf den Festivals in Sundance, Cannes, Toronto und Deauville mit Preisen überschüttet wurde.

Die Heldin heißt Diana, wie die Göttin der Jagd, sie liebt den Kampf, körperlich und direkt. Sie weiß, dass sie in eine Männerwelt eindringt, aber das schreckt sie nicht ab – im Gegenteil. Schauplatz Brooklyn: ein tristes Viertel, in dem vorwiegend Latinos leben. Diana besucht die Abschlussklasse der Highschool, ist ein rebellisches, grimmiges Mädchen, verachtet „Girlie-Girls“ und liebt es, Prügeleien anzuzetteln.

Als sie eines Tages die Trainingshalle des Brooklyn-Boxclubs betritt, ändert sich ihr Leben von Grund auf. Vom ersten Augenblick an ist sie fasziniert. So dürftig die Punchingballs und Sandsäcke auch aussehen, die Atmosphäre des Films ist merkwürdig gemischt aus Eros und Gefahr. Diana will boxen lernen und setzt das auch gegen die spöttisch abwinkenden Männer durch.

Viele der traditonellen Elemente des Boxfilm-Genres entfaltet die Story: hartes Training, erste Siege, herbe Rückschläge, Stolperstein Liebe, der große Endkampf; deren Gehalt jedoch ist auf eigenwillige und packende Weise neu formuliert. Boxfilme erzählen gewöhnlich Legenden von arbeitslosen, delinquenten Jugendlichen, die alles dransetzen, sich nach oben zu fighten. Aus dem Dunkel ihrer Ghettos streben sie ins Ruhm verheißende Licht der Arena.

Auch in „Girlfight“ ist ein trostloses Milieu die düstere Kulisse für Sehnsüchte nach einem besseren Leben. Aber es ist vor allem Dianas Boxerfreund Adrian, der erfolgreicher Profi werden will und von einer steilen Karriere träumt. Für Diana hingegen ist das Boxen weniger ein Weg zum Ruhm als ein Weg der Selbstdisziplin und der Selbstentdeckung. Sie ahnt und lernt, dass nicht der äußere Sieg im Ring das Wichtigste ist, sondern der innere Sieg über sich selbst.

Der finale Erfolg ist in vielen Boxfilmen an eine Triebmystik des Vormenschlichen geknüpft. Motto: „Du musst Killerinstinkt haben: das Auge des Tigers!“ Champion wird nur der, der seine Energie aus dem Reservoir des Bösen und Obsessiven schöpfen kann. In „Iron Man“ (Joseph Pevney) spielt Jeff Chandler einen Grubenarbeiter, der eigentlich ein friedfertiger Mensch ist, im Boxring aber zur Bestie wird: „Ich bin kein Mensch mehr, wenn ich boxe. Ich kämpfe wie ein Tier, ich will töten. Wie ein Rausch kommt es über mich!“ „Girlfight“ begeistert sich nicht fürs Animalische. Bei Karyn Kusama ist das Boxen eine elegante Kunst, ein Weg der Charakterbildung, eine Alchimie der Verfeinerung. Das Rohe verwandelt sich ins Raffinierte, das Chaotische ins Sensible. Diana, die sich anfangs auf dem Schulflur herumprügelt, wird nicht nur zu einer disziplinierten Athletin, sondern vor allem zu einer jungen Frau, die Selbstbewusstsein gewinnt und es wagt, sich ihren Gefühlen zu stellen. Für sie ist das Training wie Zen-Meditation. Je härter sie an sich arbeitet, desto empfindsamer, verletzlicher und schöner wird sie.

Die Kämpfe sind in traditionellen Boxfilmen meist schematisch und abstrakt in Szene gesetzt. Seit „Raging Bull“ bestehen sie aus Zeitlupenbildern, in denen der Boxhandschuh in Großaufnahme ein Gesicht zerschmettert, wobei Blut und Schweiß apokalyptisch in alle Richtungen spritzen. Für den Rhythmus und die Balance der Kämpferkörper interessiert sich kaum jemand. Karyn Kusama tut das. Ihre Mise en scène überzeugt durch anschmiegsame Nähe zu ihrer Hauptdarstellerin Michelle Rodriguez und durch die Evidenz, mit der sie – jenseits von Männerheroik – die Regeln des Boxfilms neu definiert.

„Girlfight“. Regie: Karyn Kusama. Mit Michelle Rodriguez, Jaime Tirelli u. a. USA 2000, 110 Min.

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