Aufgeblätterte Ganzköperplastinate

Die „Körperwelten“-Ausstellung öffnet heute im ehemaligen Postbahnhof. Unter den 200 ausgestellten Leichen ist erstmals auch ein Reiter mit Pferd. Der Pathologe Gunther von Hagens sieht sich selbst als Erfinder. Und die Kirchen laden zum Requiem

von SEBASTIAN HANDKE

Gerade hat Bildungsministerin Bulmahn das Jahr der Lebenswissenschaften ausgerufen, da kommen die Leichen nach Berlin. Die berüchtigten „Körperwelten“ zeigen präparierte Körper als Lehrobjekt und Skulptur zugleich. Ab heute ist die Ausstellung im ehemaligen Postbahnhof am Ostbahnhof zu sehen.

Inzwischen kennt man die Bilder. Staunende Besucher vor aufgeblätterten Ganzkörperexponaten. Über 6 Millionen Menschen wollten diese „Erlebnisanatomie“ inzwischen sehen. In Köln musste man bis zum Schluss mit mindestens einer Stunde Wartezeit rechen.

Pathologieprofessor Gunther von Hagens ist die zentrale Figur der Körperwelten. Er konserviert und präpariert die leblosen Körper – und das eigentlich für die Ausbildung junger Mediziner. Nun aber will er Aufklärung für den Laien. Und was als eine didaktische Ausstellung für eine Krankenkasse in Pforzheim begann, wurde inzwischen zur „erfolgreichsten Wanderausstellung der Welt“. Wissenschaft oder Kunst? Hagens selbst sieht sich am ehesten als Erfinder.

Erfunden hat er das inzwischen anerkannte Plastinationsverfahren. Dabei werden Gewebewasser und -fett zunächst durch ein Lösungsmittel ersetzt, welches danach durch Sieden extrahiert und gegen einen sogenannten Reaktionskunststoff ausgetauscht wird. Im Gegensatz zur nassen und übel riechenden Präparation durch Formalin sehen die Plastinationspräparate geradezu frisch aus. Überhaupt ist diese Ausstellung sehr grün und leicht geworden, an Pflanzen und Tageslicht wird nicht gespart. Für Ekel ist da kein Platz.

Es gibt schwangere Frauen mit geöffnetem Unterleib, zerschnittene Herzen und Nieren, Wasserköpfe und Organpakete, expandierte Körper im Stil einer Explosionszeichnung und einen Schachspieler mit geöffnetem Schädel. Beeindruckend sind aber vor allem die Exponate der Scheibenplastination, bei der tiefgefrorene Körper mit der Rindersäge in Scheiben geschnitten werden. Hier gibt es faszinierende Landschaften zu entdecken.

20 potentielle Ausstellungssorte haben sich die Organisatoren angeschaut, bevor sie sich für den denkmalgeschützten Postbahnhof entschieden. Dieser musste erst noch eingerichtet werden – für die Installation von Heizung und Notausgängen wurden die Toten an die Commerzbank verpfändet.

Das Besondere der Berliner Körperwelten ist, dass nicht unweit von Hagens' anatomischen Theater, im Theatrum Naturae et Artis des Gropiusbaus, eine Ausstellung zu sehen ist, die ebenfalls in den Räumen der Universität ihren Ausgang nahm und welche die anderen Methoden pädagogischer Präparierung vorführt: das Wachspräparat, die Dermoplastik und Formalinkonservierung. Hier wie dort wird mit unterschiedlichen Mitteln der Fetisch des Wissenschaftlers ästhetisiert.

Solange es die Körperwelten gibt, existiert auch der erbittert geführte Streit darum. Verschiedene Beiträge der Debatte sind in dem jetzt erscheinenden Buch „Schöne neue Körperwelten“ (Klett-Cotta) zusammengefasst. Die Verletzung von Totenruhe und der gute Sitten werden Hagens vorgehalten. Kritisiert wird die Vorführung toter Menschen als Objekte vor einem Massenpublikum, ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Vermutlich ist es eher die Obszönitat der totalen Nacktheit, die aufregt.

Auch im engeren Umfeld von Hagens bleibt Widerspruch nicht aus. Wilhelm Knirz, langjähriger Mentor von Hagens, fürchtet angesichts des jüngsten und größten Exponats, Pferd mit Reiter, die Disneyfizierung der Körperwelten. Doch es ist vor allem eine Selbstverortung des Präparators Hagens in der Geschichte seiner Zunft. Das Pferd mit Reiter nimmt überdeutlich Bezug auf Jean-Honoré Fragonards „Der skelettierte Reiter“, eine unter der Verwendung von Leichen zwischen 1765 und 1771 entstandene Skulptur, deren Präparationsverfahren bis heute ein Geheimnis geblieben ist.

Etwas zielgenauer trifft der Vorwurf, die Leichen würden zur Knetmasse degradiert – das böse Wort vom Spiel mit den Barbiepuppen. Und tatsächlich sind die Körperwelten nicht frei von Geschmacklosigkeiten. Den „Läufer“ mit seinen im Winde fliegenden Muskellappen hätte man sich sparen können.

Auch in Berlin bleibt der Protest nicht aus. Evangelische und Katholische Akademie wollen die Ausstellung mit 15 Veranstaltungen begleiten. Neben Podiumsdiskussion und Seelsorge gehört dazu ein Requiem für die Toten, von denen nicht wenige sich zur Körperspende entschieden hatten um einer kirchlichen Zeremonie zu entgehen.

Die so genannten Körperspender melden sich freiwillig für ihr finales Peeling. Anträge gibt es in der Ausstellung. Neben dem Dienst an der Wissenschaft geben die designierten Plastinate ihre Eigenwilligung, um nicht „von Würmern zerfressen“ zu werden und dem „Tod absolut ruhig entgegen“ sehen zu können – ästhetischer als in Plastination, so ein Spender, „kann ich mir die Zeit nach dem Tode nicht vorstellen.“ Erlösung durch Fledderei, sozusagen.