„Ein Film ist doch kein Verbrechen“

„A ma soeur“, der neue Film der französischen Schriftstellerin und Filmemacherin Catherine Breillat, läuft im Wettbewerb und sorgte gleich für Diskussionen. Die Regisseurin im Gespräch über Gefühle, Sex, Todeslust und den Verrat des Liebesdiskurses

Interview KATJA NICODEMUS

Im vergangenen Jahr löste Catherine Breillat mit ihrem pornografischen Diskursfilm „Romance“ in Frankreich eine Debatte über Feminismus und Pornografie aus. Auch ihr neuer Film, „A ma soeur“, ist eine Auseinandersetzung mit den Zwängen, die weiblicher Sexualität auferlegt werden. Es geht um zwei Schwestern im Teenageralter, die ihre Ferien gemeinsam mit den Eltern in einer abgeschlossenen Villenresidenz verbringen: Elena, die schöne und ältere, sucht sich mit einer italienischen Urlaubsbekanntschaft den ersten Liebhaber und verhält sich im Tauschgeschäft der Liebe –schöne Worte gegen Sex – ihrem Alter entsprechend naiv. Die dicke Anaïs verbarrikadiert sich in ihrem Körper und träumt in polymorph-perverser Versonnenheit von der ersten Liebe „ob Mann, ob Frau, ob Tier“. Breillats Film rief auf der Berlinale extrem geteilte Reaktionen hervor.

taz: Frau Breillat, auf der Pressekonferenz wurden Sie unverhältnismäßig aggressiv behandelt, ein Journalist verlangte von Ihnen, sich für Ihren Film zu rechtfertigen . . .

Catherine Breillat: Seltsam, oder? Ich denke, ein Film ist doch eigentlich kein Verbrechen, für das man sich rechtfertigen muss. Aber dass „A ma soeur“ solche Aggressionen hervorruft, spricht ja eigentlich für den Film. Vielleicht hat sich das Unwohlsein der Figuren auf diesen aufgebrachten Zuschauer übertragen.

Sie erzählen von zwei unterschiedlichen Schwestern, Elena und Anaïs. Keine der beiden ruht in sich, aber die dicke Schwester scheint damit besser klarzukommen.

Die pummelige Anaïs fühlt sich zwar nicht wohl, aber da sie ihr Befinden frontal ausdrückt, existiert sie wenigstens. Ihre schöne Schwester darf kein Problem haben, weil sie so wunderschön ist. Es gibt keinen Grund, warum es ihr nicht gut gehen sollte. Aber natürlich fühlt sie sich zutiefst unwohl unter der perfekten Fassade, auf die ihre Eltern so stolz sind.

In einer unglaublich langen Verführungsszene erlebt Elena den ersten Sex als einen Akt, der sich den Mechanismen des männlichen Begehrens unterordnet. Was hat Sie an diesem Ungleichgewicht interessiert?

Dass ein junges Mädchen in diesem Alter eine Beute ist und sich selbst gleichzeitig nicht als Beute betrachtet. Durch ihre Schönheit wird sie aber quasi von der Welt absorbiert. Sie glaubt, dass sie verführt, aber das Gegenteil ist der Fall. Was ihr dabei widerfährt, würde ich den Verrat des Liebesdiskurses nennen. Man wächst ja im Mythos der ewigen Liebe auf. In der Praxis ist es aber meistens nur das sexuelle Begehren, das sich im Gefühlsdiskurs ausdrückt.

Gut, aber dieses Begehren ist bei Elenas erstem Liebhaber nun mal vorhanden, was soll er denn tun?

Ich mache ihm ja auch keinen Vorwurf. Nur ist er nicht in der Lage, sein Begehren auch als solches zu formulieren, weil die Gesellschaft den reinen Trieb immer noch unterdrückt. Also muss er von Gefühlen schwafeln. Elena, die im Glauben an die Ewigkeit der Gefühle aufgewachsen ist – und dieser Mythos wird in Frankreich in den bürgerlichen Familien immer noch gepflegt –, fühlt sich davon verraten. Das Ergebnis ist eine mentale Vergewaltigung, die fast schlimmer als die physische ist, weil das Mädchen aus Naivität an seiner eigenen Vergewaltigung teilnimmt. Damit verschwindet auch ihre Selbstachtung. Ich bin davon überzeugt, dass das vielen Mädchen passiert und immer wieder passiert.

Das Berührende an dieser langen Verführungsszene ist, dass die kleine Schwester alles mitkriegt. Sie durchschaut die Sache, würde aber am liebsten selbst mitmachen.

Sie will, und sie will nicht. So wie die jungen Mädchen immer wollen und nicht wollen. Das ist für die Jungs schwierig. Er faselt die ganze Zeit von einem Liebesbeweis und will eigentlich nur endlich zur Sache kommen. An diesen Stellen wird der Film lustig. Weil uns allen bewusst wird, dass wir mal so naiv waren.

Glauben Sie nicht, dass ein Verführer meistens selbst an seine Worte glaubt?

Es ist der machiavellische Diskurs des Verführers, und wahrscheinlich glaubt er ihn sogar selbst, zumindest wenn er die Worte ausspricht. Aber nur so lange, bis er zu seinem Ziel gelangt.

Wie kamen Sie eigentlich darauf, ausgerechnet die Fellini-Schauspielerin Laura Betti die Quintessenz von der Liebe als Tauschgeschäft aussprechen zu lassen?

Weil der Schauspieler, der den Verführer spielt, schon so sinnlich ist, dass er eigentlich nur ein heiliges Monster wie Laura Betti als Mutter haben kann. Außerdem sagen mir die meisten Schauspieler in Frankreich ab, weil sie denken, dass es ihrer Karriere schadet, wenn sie in einem meiner Filme mitspielen.

„A ma soeur“ hat ein merkwürdiges, äußerst brutales Ende, das völlig unvermittelt hereinbricht.

Ich hatte meine helle Freude daran. Ich habe es richtig genossen, endlich einmal Leichen zufilmen. Diese Körper habe ich ein bisschen wie Cindy Sherman aufgenommen. Wenn man Tote mit dieser ästhetisierenden Lust behandelt, dann ist das letztlich eine Negation des Todes. Dieser hingegossene Filmtod am Ende meines Films ist eigentlich zu schön, um wahr zu sein.

Am Schluss steht eine Vergewaltigung. Als Anaïs von den Polizisten in Sicherheit gebracht wird, sagt sie, sie sei nicht vergewaltigt worden. Warum?

Dieses Mädchen verbittet sich während des gesamten Films jede Einmischung in ihre Sexualität. Auch diese. Die ganzen Verhöre würden sie nur weiter verletzen. Sie hat bereits die mentale Vergewaltigung ihrer Schwester mitbekommen, und das reicht ihr. Wenn man nicht vorgeführt werden will, wenn man nicht das ewige Opfer sein will, muss man alles abstreiten.

In all Ihren Filmen und Romanen steht die weibliche Sexualität im Vordergrund. Trotzdem sehen Sie sich nicht als Feministin.

Wenn man sich mit weiblicher Sexualität beschäftigt, muss man die männliche stets mitdenken, das funktioniert nur dialektisch. Es geht mir in meinen Filmen nicht darum, irgendjemand etwas vorzuwerfen, sondern darum, Zustände zu untersuchen, die kulturhistorisch entstanden sind. Der Orgasmus mag sich bei allen Menschen ähnlich anfühlen, aber wie er entsteht, mit welchem Vorspiel und welchen Ritualen, das ist etwas, was über unser individuelles Begehren hinausgeht und von ganz anderen Parametern bestimmt wird. Genau das interessiert mich.

Im Frühjahr erscheint die Übersetzung von Catherine Breillats Roman „Ein Mädchen“ im Kowalke-Verlag.„A ma soeur! Fat Girl“. Regie: Catherine Breillat. Mit Anaïs Reboux, RoxaneMesquida und Libero de Rienzo, Frankreich, 95 Minuten