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normalzeitHELMUT HÖGE über Pedophilie und Peripathetik

Fußraum ohne Volk

Der Merve Verlag hat soeben den „Überlebenslauf“ von Oskar Huth neu herausgegeben. Der Klavierstimmer Oskar Huth fälschte als Illegaler von 1941 bis 1945 Ausweise und Lebensmittelkarten, mit denen über 60 Juden überleben konnten. Sie hockten in Verstecken über ganz Berlin verteilt, und Oskar Huth versorgte sie – zu Fuß. Er nannte das später seinen täglichen „monsterhaften Latsch durch die Stadt“.

Vordem gab es auch noch einen ungefährlichen „Latsch“: Das war der des Flaneurs – von Hessel bis Benjamin feuilletonisiert, jetzt wieder aufgegriffen von Mark Siemons – und neulich vorgetragen im Rahmen der Vortragsreihe „Auschwitz denken“. Auch die „Spaziergangsforschung“ von Lucius Burckhardt gehört in diesen Zusammenhang.

Die Gefährdung der Fußgänger nimmt unterdes ab, wie die Unfallstatistiken beweisen. Nicht zuletzt weil sie immer weniger werden, trotz Ausweitung aller Fußgängerzonen. Dies war Anfang der Sechzigerjahre – mit Beginn der Massenmotorisierung – noch anders: Damals verschwanden die spielenden Kinder von der Straße, und die Alten und Besoffenen kamen nach und nach unter die Räder.

Am 18. Juli 1962 wendete sich der Frankfurter Philosoph Theodor Wiesengrund Adorno aufgeregt an die FAZ: „Nachdem ich auf die Missstände der Verkehrsregelung auf der Senckenberganlage dort, wo sie an der Universität vorbeiführt, verschiedentlich aufmerksam gemacht hatte, ohne etwas erreichen zu können, wende ich mich heute an die Öffentlichkeit.“ – Ein fast schon klassischer Anfang eines Leserbriefs. Es geht dem Philosophen darum, „dass, zunächst durch Verkehrsampeln ..., dann aber durch viel radikalere Maßnahmen Abhilfe geschaffen wird“. Denn, so Adorno, sollte dort „ein Student oder ein Professor in jenem Zustand sich befinden, der ihm eigentlich angemessen ist, nämlich in Gedanken sein, so steht darauf unmittelbar die Drohung des Todes; der Erklärung bedürfen nicht die Unfälle, sondern einzig, dass nicht viel mehr passiert.“

Am Schluss bekommen auch noch die Autofahrer, bei denen „nicht darauf zu hoffen ist, dass sie anderen Sinnes werden“, ihr Fett ab. Der „Latsch“ der Intellektuellen ist also aufgrund der technischen Entwicklung fast so gefährlich geworden wie zuvor die Solidarität mit den Juden von Oskar Huth und anderen Antifaschisten!

Adornos Leserbrief nimmt bereits wie in einer Nussschale sämtliche Verkehrsdispositive der 80er- und 90er-Jahre vorweg, die dann zur Gründung des Zentralverbands aller Pedophilen und Peripathetiker – des „Fußgängerschutzvereins Fuß e.V.“ mit Bundesgeschäftsstelle in Berlin – führten. Sogar dessen Strategien: Erst die Verantwortlichen informieren, dann, möglichst mit Prominenz, die Öffentlichkeit mobilisieren, um schließlich mit staatlich-planerischen Eingriffen die Rechte des Schwächeren gegenüber denen des Stärkeren hervorzuheben.

Inzwischen gibt es in Deutschland über 4.000 Bürgerinitiativen im Verkehrsbereich mit durchschnittlich zehn Aktiven je BI, und ihre Zahl steigt ständig. Der Dachverband Fuß e.V. zählt dazu: „Verkehrsberuhigungsinitiativen, Elterninitiativen für Ampeln, Zebrastreifen, Umgehungsstraßen, Fahrrad-Inis, Aktionsgruppen für den öffentlichen Personennahverkehr, gegen Flugplätze sowie Arbeitskreise, die sich mit der Binnenschiffahrt oder dem Transrapid beschäftigen.“

Was er jedoch nicht erwähnt, ist deren munteres Gegeneinander. Der Historiker Biblab Basu erzählt: „Als die ersten Fahrrad-Inis aufkamen, habe ich die natürlich sofort unterstützt – bis ich gemerkt habe, dass die auch wieder nur auf Kosten der Schwächeren stärker werden wollen. Also dass sie den Fußgängern und nicht den Autofahrern Raum wegnehmen wollen – für mehr und breitere Fahrradwege. Da mach ich nicht mit!“

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