Die ägyptiöse Kugel

Unter Hinrennern (6): Mit Erkältung bei Aida, Amneris und Radames

Verdi lebt! Alle anderen schleppen sich halb tot in die Deutsche Staatsoper.

„Vivat Verdi!“, kräht es von den Plakaten. Der „Maestro della Rivolutione Italiana“ ist allerdings der Einzige, der an diesem Abend lebt. Alle anderen schleppen sich halb tot in die Deutsche Staatsoper. Janz Berlin ist ergälded und begrüßt sich mit schnupfwunden Nasen. Aber wenn Daniel Barenboim die Aida eigenhändig dirigiert, kann man die Karten schlecht verfallen lassen. Nicht im Verdi-Jahr. Lieber schwitzt der Herr zur Linken, als ob die Sauna seine zweite Heimat ist.

Mit der Ouvertüre entfaltet der Nachbaranzug eine atemberaubende Mischung aus Achselschweiß und Mottenwehr. „Vati, zieh mal den guten Grauen an!“ – „Aber der ist doch so warm.“ – „Mir zuliebe!“ Mirzuliebe sitzt einen Platz weiter und hat ihren breiten Nacken in Vatis Weihnachtsgeschenk getränkt. Der Rest der Gäste hustet und niest. Wie ich, der ich sowieso nichts riechen kann, aber mir von meiner Begleiterin die immer neuen Nuancen gern schildern lasse. Parallel zur Geruchsreportage und zum italienischen Gesang laufen die deutschen Obertitel am Bühnenrand, und prompt seufzt der Nachbar eine Spur zu vernehmlich auf, als Aida den Geliebten in die „kühlen Täler ihrer Heimat“ locken will.

Verschnorchelt hatte ich heute die Arbeit verweigert und gestern Abend sogar die Einladung in ein Wahres Lokal. Der Schädel wummerte aber auch arg zu schön. Schlagartig trompet Verdi die Nase frei, meine Erkältung ist wie weggeblasen. Oder zumindest übertragen auf den Leidensgenossen zur Linken, der jetzt komplett ausfließt, während ich ein Kichern unterdrücken und meine letzten Kräfte aufs Zwerchfell konzentrieren muss: Denn da betritt der wohl dickste Radames aller Zeiten die Bühne. Das heißt, er rollt schon länger durchs Ägyptische Museum. Doch erst jetzt erkenne ich in der singenden Kugel den Helden von Memphis, den Heerführer der Pharaonen, den Schlachtensieger wider die Äthiopischen. Dessen enorme Formen aus der beigen Kolonialuniform quellen, sobald er in die Knie geht und kaum mehr auf die Füße kommt. Unter den Klängen des Triumphmarsches stiefelt Johan „Radames“ Botha vom Nil an den Bühnenrand, dass einem angst und bange wird um die zarten Harfenistinnen im Orchestergraben. Zum Glück stoppt ihn der Souffleusen-Kasten. Und um diesen ägyptiösen, ja pavarottesken Moppel von Radames sollen sich die listig-liebreizende Pharaonentochter Amneris und die artig-anmutige Negrusklavin Aida bis aufs Blut streiten?

Aber Radames hatte eben schon immer den schlimmsten Part von allen. Wieder mal ist der Heldentenor der Dumme und muss auf Anweisung der Herren Verdi und Ghislanzoni den Verräter geben. Warum verzichtet er nicht einfach auf die todessehnsüchtige Aida und entscheidet sich für die kluge Amneris – und die Sache ist geritzt? Aber so: Schmach und Grab – Klappe zu, Aida tot. Eventuell hat der Western-Altmeister John Ford auch in diesem Fall Recht. Auf die Frage, warum die Indianer, die eine Postkutsche endlos verfolgen, nicht einfach die Pferde erschießen, antwortete Ford: „Dann wäre der Film zu Ende.“

Auch Aida geht diesmal nicht in die Verlängerung mit Elfmeterschießen. Radames endet in der großzügig angelegten Mumie. Und wird im Tod doch noch in Ehren gerettet: durch die Stimme von Johan Botha. Der sich von den gewaltigen Damen Norma Fantini und Waltraud Meier nicht die Butter vom Fladenbrot nehmen lässt. Um gegen dieses Aida/Amneris-Duo anzukommen, braucht es doppeltes Volumen. Was für ein Sänger! Was für ein Resonanzraum! Verdi lebt in ihm. Während ich bereits im nächtlichen Erkältungsbad sanft entschlummere.

MICHAEL RINGEL