Zahl der Armen verdoppelt

US-Schelte für israelische Regierung, weil diese Gelder der Palästinenser eingefroren hat. Seit Monaten bezahlt die Autonomiebehörde keine Gehälter

JERUSALEM taz ■ „Mein Volk steht am Rande einer Hungersnot“, klagte Palästinenserpräsident Jassir Arafat in einem Telefonat mit dem künftigen israelischen Premierminister Ariel Scharon. Israel gerät international zunehmend unter Druck, nicht gezahlte Gelder an die Palästinenser zu transferieren. In einem Papier des amerikanischen Außenministers Collin Powell heißt es, eine Nichtzahlung sei für die israelische Sicherheit nicht von Nutzen. Der Amerikaner warnte vor einem Kollaps der Autonomiebehörde und dem Ausbruch der Anarchie.

Bei den fraglichen Geldern handelt es sich um rund 20 Millionen Dollar Mehrwertsteuer auf von Palästinensern gekaufte israelische Produkte, die Israel zurückzahlen soll. Die israelische Seite will von den Vorwürfen nichts wissen. „Wir halten nichts zurück“, kontert Chini Goldstein, ein Sprecher des israelischen Wirtschaftsministeriums, auf telefonische Anfrage der taz. Der Anschuldigung fehle jede Grundlage.

Die palästinensische Autonomiebehörde braucht das Geld, nicht zuletzt, um ihren Angestellten wenigstens einen Teil der Gehälter auszuzahlen. Dafür sind sofort 50 Millionen Dollar notwendig. Für den Fall, dass weiterhin nicht bezahlt wird, sieht Powell die Gefahr, dass islamisch-fundamentalistische Organisationen palästinensische Sicherheitsbeamte abwerben.

„Wir stehen vor einer Verdoppelung der Armutsrate“, sagt Joseph Saba, Direktor der Weltbank in den Palästinensergebieten, in einem Gespräch mit der taz. Im September 2000 verfügten nur 21,5 Prozent der Palästinenser über weniger als 2 Dollar pro Tag. Anfang Februar waren es bereits 40 Prozent. „Die Palästinenser verdienen zwar nur ein Zehntel des israelischen Durchschnittseinkommens, sie sind aber auf die israelischen Produkte angewiesen“, erklärt Saba. Und die haben europäisches Niveau.

Hauptgrund für die dramatische Entwicklung im Westjordanland und im Gaza-Streifen ist die Einreisesperre für palästinensische Arbeitnehmer. In ruhigen Zeiten verdienten bis zu 140.000 Palästinenser ihren Lebensunterhalt in Israel. Von einem Gehalt leben jeweils zwischen vier und sieben Familienangehörige. „Die Art der derzeitigen Einreisesperre ist schlimmer als je zuvor“, meint der Weltbank-Direktor. Den Palästinensern ist jetzt nicht nur die Einreise nach Israel untersagt, sondern auch zwischen den Städten und Dörfern bleibt die Durchfahrt blockiert.

Seit Israel und die Palästinenser 1993 mit der Osloer Prinzipienerklärung den Friedensprozess einleiteten, geht es mit der palästinensischen Wirtschaft stetig bergab. Die von dem damaligen Premierminister Jitzhak Rabin eingeleitete Politik der Trennung der beiden Gebiete führte dazu, dass die Einreise aus den autonomen Zonen nach Israel umgehend komplizierter wurde. Nur in den Jahren 1998 und 1999, ausgerechnet zu Zeiten der israelischen Likud-Regierung, sei „eine leichte Erholung festzustellen“ gewesen, erklärt Saba. Die israelische Wirtschaft hingegen habe nach Oslo „geboomt“.

Trotz aller Misere rechnet der Weltbank-Direktor nicht damit, dass die Armutsrate nun noch weiter wachsen wird. Auf einem niedrigen Niveau versuchen die Familien, sich durchzuschlagen. Gefährdet seien jedoch die medizinische Versorgung und die Infrastruktur. „Die nächste Stufe der Verarmung schägt sich im sozialen Bereich nieder“, meint Saba. So sei abzusehen, dass der Analphabetismus vor allem bei Frauen zunehmen wird, denn die Mädchen werden nicht mehr zur Schule geschickt, sondern bleiben zu Hause und helfen.

Der künftige israelische Premierminister Scharon zeigte unterdessen Verständnis für „die Bevölkerung, die den Terror nicht unterstützt“. Doch setze jede Hilfsmaßnahme die Einstellung der Gewalt gegen Israel voraus. SUSANNE KNAUL