Jede Seele ist ein Zirkus

Kostümexzesse und Bondage-Fantasien in Kreuzberger Kellergewölben, großformatige Porträts und unwirklich schöne, menschenleere Landschaften: Die Kunstwerke zeigen Fotoarbeiten von Ulrike Ottinger und Abbas Kiarostami

Unaufhaltsam steigen in der Berliner neuen Mitte die Bierpreise. Selbst Bert Papenfuß verlangt in seinem Kaffee Burger für einen halben Liter inzwischen 5,50 Mark – obwohl doch einst versprochen worden war, die Preispolitik der Familie Burger wenigstens annähernd fortzuführen.

Im Gastronomie-Trakt der Kunst-Werke e.V. kostet ein winziges, reagenzglasförmiges Bierchen stolze 4 Mark. Was angesichts des protzigen Ambientes weniger verwundert: ringsum überwiegen Spiegelflächen, gebürsteter Stahl, Marmor und dunkles Holz. Klaus Biesenbach hat aus der schönen alten Margarinefabrik auf der Auguststraße ein totalsaniertes, baulich exklusives Ensemble gemacht, in dem auch Kunst ausgestellt wird. Und nicht unbedingt die schlechteste. Wie im Moment die fotografischen Arbeiten von zwei Künstlern, deren Filme zu den wichtigsten Beiträgen des Autorenkinos gehören: Ulrike Ottinger und Abbas Kiarostami.

Ulrike Ottinger hat in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit visuell überbordenden Undergroundfilmen von sich reden gemacht, sie arbeitete mit Wolf Vostell, Rosa von Praunheim, Eddie Constantine, Valeska Gert, Irm Herrmann, Kurt Raab oder Nina Hagen.

In der ersten Etage der Ausstellung finden sich großformatige Stills aus ihren Filmklassikern „Bildnis einer Trinkerin“ (1979), „Freak Orlando“ (1981), „Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse“ (1984) und „Johanna d’Arc of Mongolia“ (1989). Szenen, die faszinierende Einblicke in ein filmisches Universum bieten, das in Deutschland bis heute ohne Vergleich geblieben ist.

In aufwendigen, tief gestaffelten Tableaus gruppiert die Regisseurin ihre oft pittoreske Personnage, zitiert archaische Rituale, Jahrmarktästhetik und den Manierismus des Barock. Mit Tabea Blumenschein wusste Ulrike Ottinger eine detailbesessene, prägende Ausstatterin an ihrer Seite. Auf einer Säule thront eine Dame ohne Unterleib, ein Zwergwüchsiger führt eine riesige gefleckte Dogge aus, zwei alte Männer in Damenkleidern befinden sich in merkwürdigem Zweikampf. Freak-City vor den Türmen des Teufelsberges, Kostümexzesse und Bondage-Fantasien in Kreuzberger Kellergewölben.

Es gibt viel zu entdecken in diesen Kompositionen. Sie sind nicht unbedingt fotografisch gedacht, machen aber vor allem Lust auf die vollständigen Filme. Eine gewisse Verwandtschaft zu den surrealen Obsessionen eines Alejandro Jodorowsky ist dabei übrigens nicht zu übersehen.

In der zweiten Etage wechseln die Motive von manieristischen Gruppeninszenierungen hin zu vorgefundenen Landschaftstableaus und ethnografischen Studien.

Bei ausgreifenden Reisen durch China, Sibirien und die Mongolei stieß Ulrike Ottinger offenbar auf Situationen, die in ihren vorangehenden Arbeiten bereits angelegt waren. Ihre inszenatorischen Eingriffe reduzieren sich mehr und mehr, Faszination tritt an die Stelle von Verfremdung. Ein völlig untouristischer Naturalismus gewinnt an Gewicht, der den fließenden Übergang bereitet zu Abbas Kiarostamis Fotografien im dritten Stockwerk des Hauses. Der iranische Filmemacher, dessen international mehrfach preisgekrönte Arbeiten „Wo ist das Haus meines Freundes“ (1988) oder „Quer durch den Olivenhain“ (1994) das innenpolitische Tauwetter in Persien vorwegnahmen, stellt Bilder aus, die keinen direkten Bezug zu den eigenen Filmen aufweisen, außer dass sie bei der Suche nach Drehorten oder am Rande von Dreharbeiten entstanden sind: menschenleere, wunderbar ornamentale Landschaften, die in ihrer strengen Farbkomposition mitunter wie sparsam gemusterte Fahnentücher anmuten.

Die horizontalen Schichten aus Himmel, flächiger Vegetation, Erdreich, Sand und Wasser finden stets ihre Brechung durch einen einzelnen Baum oder eine vertikal verlaufende Weglinie. Eine geradezu unwirkliche Schönheit wird hier mittels der fotografischen Apparatur beschworen, die sich damit gleichzeitig vergessen zu machen sucht. Ein verführerischer, wenn auch durchschaubarer Akt.

In der Galerie Contemporary Fine Arts auf der Sophienstraße gibt es unter der Überschrift „Every Soul is a Circus“ eine zweite Ottinger-Ausstellung. Anders als bei den Bildern in den Kunstwerken wohnt diesen Schwarzweißabzügen eine größere fotografische Eigenständigkeit inne. Ihre Spontaneität ist höher, sie atmen Atmosphäre, vor allem ist ihnen ein hohes Maß an Privatheit eigen.

Neben Porträts, unter andrem von Valeska Gert und Tabea Blumenschein, sind die originalen, grafisch bearbeiteten Drehbücher zu sehen. Das schönste Ausstellungsobjekt indes besteht in einem großformatigen Porträt von Eddie Constantine: mit seinem zerstörten und dennoch sehr verletzbaren Gesicht sehen wir ihn vor einem leeren Glas Schultheiss-Pils, direkt in die Kamera blickend. CLAUS LÖSER

Fotoarbeiten von Ulrike Ottinger und Abbas Kiarostami: Bis 1. April in den Kunstwerken, Auguststraße 69, Mitte; die zweite Ausstellung mit Arbeiten von Ulrike Ottinger läuft bis 24. März in der Galerie Contemporary Fine Arts, Sophienstr. 18, Mitte; Filme von Ulrike Ottinger in den Kinos Arsenal, Potsdamerstr. 2, Tiergarten, und Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30, Prenzlauer Berg