„Diese kleinkarierte Klüngelei beenden“

Der PDS-Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi plädiert dafür, den krisengeschüttelten Senat durch ein überparteiliches Personenbündnis abzulösen. Der neue Bürgermeister soll zu einem Markenzeichen der Stadt werden: Dass er sich diese Rolle zutraut, streitet der frühere Fraktionsvorsitzende nicht ab

Interview RALPH BOLLMANN

taz: Herr Gysi, Sie spielen schon länger mit dem Gedanken, im Jahr 2004 für das Amt des Regierenden Bürgermeisters zu kandidieren. Kommt die Implosion des alten Westberliner Systems, die wir in der CDU-Affäre gerade erleben, für Sie nicht ein bisschen früh?

Gregor Gysi: Mit dem Gedanken spielen andere mehr als ich. Aber so ist das Leben: Die Dinge kommen, wenn sie kommen. Natürlich weiß ich, dass es im Berliner PDS-Landesverband langfristige Pläne gab. Die könnten über den Haufen geworfen werden, wenn sich alles sehr schnell verschiebt. Aber im Moment sehe ich nicht, dass die SPD den Mut eines ganzen Jahrhunderts zusammennimmt und eine neue Konstellation anstrebt – obwohl das dringend erforderlich wäre, um aus dieser Klüngelei herauszukommen. Und selbst die ist einfach kleinkariert. Das wird, pardon, schon an der Höhe der ungesetzlichen Parteispenden deutlich. Das ist typisch für den Berliner Provinzialismus und hat eben nicht einmal hauptstädtische Dimension.

Sind SPD, PDS und Grüne personell und programmatisch überhaupt in der Lage, zum jetzigen Zeitpunkt die Regierung zu übernehmen?

Das wäre eine riesige Herausforderung für alle Beteiligten. Da würden sicherlich auch Fehler passieren. Aber was der heutige Senat kann, können die drei schon lange.

Für Neuwahlen bräuchten Sie eine Zweidrittelmehrheit – also die Zustimmung der CDU.

Es könnte eine Situation eintreten, in der die CDU glaubt, trotz der Affäre aus einer Neuwahl nicht so schlecht herauszukommen. Auch die SPD könnte sich Chancen ausrechnen. Wenn beide den gleichen Gedanken haben, dann könnte eine Zweidrittelmehrheit zustande kommen. Wer sich geirrt hat, zeigt sich hinterher. Wenn sich die Situation noch zuspitzt, könnte man auch ohne Neuwahlen zu einer neuen Konstellation kommen. Das wäre für die SPD ein Wagnis. Aber ohne Mut findet man in der Politik nicht zu neuen Wegen.

Ein Regierungswechsel ohne Neuwahlen würde bedeuten, dass die SPD als größte Regierungspartei einer doppelt so starken CDU gegenüberstünde.

Es ist auch im Bundestag schon vorgekommen, dass nicht die stärkste Partei mit der FDP die Regierung gestellt hat, sondern die zweitstärkste. Natürlich ist das keine glückliche Konstellation. Aber wenn jetzt lauter Umstände ans Licht kommen, die bei der letzten Wahl nicht bekannt waren – dann kommt der CDU die Rolle, die sie bislang spielte, eben nicht mehr zu. Auch im Interesse der eigenen Erneuerung wäre es für die CDU dann sinnvoll, aus der Regierung auszuscheiden. Auch die Bundes-CDU hatte erst in der Opposition die Chance, sich zu erneuern.

Es ist ja rührend, wie Sie sich um die CDU sorgen. Aber ist die SPD mit dem vorhandenen Personal in der Lage, in Berlin die Regierung zu übernehmen?

Die Personaldecke der Berliner SPD ist im Augenblick etwas dünn, das stimmt. Aber es gibt ja eine große Bundes-SPD.

Womöglich helfen der SPD die Gedanken, die sich die PDS über ihren Spitzenkandidaten macht, auf die Sprünge?

Vielleicht könnten wir die Stadt schneller vereinigen, wenn wir das nicht so eng parteipolitisch sehen. Vielleicht müsste man den Weg eines Personenbündnisses gehen. Eine Weile lang, nicht ewig. Vielleicht sogar unter Einbeziehung von korrekten, zur Toleranz fähigen CDU-Politikern – nicht gerade solchen, die besonders eng mit Banken und Immobilien verwoben sind. Berlin steht vor historischen Aufgaben, und die müssen ihrer Größe entsprechend angepackt werden.

Ist es dafür schon zu spät?

Spät, aber nicht zu spät. Man müsste sich einfach anschauen: Wer in dieser Stadt ist in welcher Funktion besonders geeignet, eine Vision für Berlin glaubwürdig zu vertreten. Dann müsste man sehen, ob es Parteien gibt, die das mittragen würden.

Haben Sie schon mit Personen, die Sie für geeignet halten, über diese Idee gesprochen?

Selbst wenn ich es getan hätte, würde ich es Ihnen nicht erzählen. Aber man muss einfach wissen, was man will. Der Senat hat es in den vergangenen zehn Jahren versäumt, den Zweck einer Hauptstadt für andere Regionen deutlich zu machen. Er hat nur über einen Hauptstadtvertrag mit der Bundesregierung nachgedacht. Er hat ganz vergessen, dass Berlin auch einen Vertrag mit allen Bundesländern brauchte – in dem geklärt ist, wozu die anderen Länder eine Hauptstadt benötigen, was sie von ihr haben und was man sie sich also kosten lassen darf. Auch im Föderalismus ist eine Stadt mit Motorfunktion wichtig.

Vielleicht braucht man ein solches Personenbündnis auch für die Vereinigung dieser Stadt, die mental immer noch tief gespalten ist. Mich erschüttert, wie weit die Spaltung in Überlegungen eingeht. Ich hätte mir ja in den vergangenen Jahren ernsthaft geschadet, wenn ich nach Westberlin umgezogen wäre. Dabei wäre das doch das Normalste der Welt, wenn ich dort eine bessere Wohnung gefunden hätte. Das muss man sich mal vorstellen!

Wir jammern die ganze Zeit, dass die Stadt 40 Jahre gespalten war. Das ist ja okay, aber irgendwann muss man auch einmal nach vorne schauen. Wir sind die einzige Stadt in Europa mit einer 40-jährigen Ost-Erfahrung und einer 40-jährigen West-Erfahrung. Hier muss sich niemand fremd fühlen. Wir sind die einzige Stadt, in der wahrscheinlich 10.000 Menschen perfekt Russisch und mindestens 100.000 Menschen perfekt Englisch sprechen. Berlin könnte der Ort für Verhandlungen werden.

Wir müssen auch in Berlin selbst zu einem neuen Hauptstadtverständnis kommen. Bislang herrscht die Mentalität: Alle müssen uns finanzieren. Das hat natürlich mit der Ostberliner und mit der Westberliner Geschichte zu tun. Aber das werden die anderen nicht einsehen. Man muss die desaströse finanzielle Situation klären – mit dem Bund, mit den anderen Ländern und durch eigene Anstrengung.

War das Ihre Bewerbungsrede für das Amt des Regierenden Bürgermeisters?

Jetzt gehen Sie einmal weg von mir. Berlin braucht eine Person, die sich so mit dieser Stadt verbindet, dass sie zu einem Markenzeichen wird.

Wenn Sie sich in Berlin engagieren, haben sie ein ganz persönliches Problem: Ihre Partei braucht Sie 2002 als Bundestagskandidaten.

Ich weiß nicht, ob ich ein persönliches Problem damit habe. Nach dem Parteitag in Münster habe ich gesagt: Ich habe das nicht vor. Meine innere Einstellung dazu hat sich nicht geändert. Das einzige, was ich zusätzlich gesagt habe, ist: Ich warte noch eine bestimmte Zeit ab, bevor ich es endgültig entscheide. Im Augenblick sehe ich aber keine Umstände, die mich zum Umdenken veranlassen könnten.

Das gängige Argument . . .

Mir reichen Wahlkampfargumente nicht. Das sind keine Argumente für einen vierjährigen Aufenthalt im Bundestag.

Auch wenn es für die PDS um die Existenzfrage geht?

Wenn es darum ginge. Aber die PDS hat alle Chancen, in den Bundestag zu kommen – unabhängig von einer Kandidatur meiner Person. Ich lasse mich nicht zu vorschnellen Entscheidungen hinreißen, um irgendwelche Leute zu beruhigen. Aber ich muss meine Entscheidung auch verantworten können.