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Die ganze Palette der Probleme

Rückkehr nach Europa (IV): Lettland braucht einen beschleunigten Prozess der Definition seiner nationalen Kultur, um für sich einen Platz in Europa zu sehen und transnationale Strukturen in den wieder gewonnenen Nationalstaat zu übernehmen, in dem der Nationalismus als progressive Energie gilt

von DENISS HANOVS

Ein Land wie Lettland, das sich gerne als eine moderne europäische Demokratie sieht und als solche auch im Ausland gesehen werden möchte, hat es nicht leicht. Man bemüht sich ständig, das gute Gesicht zu wahren, und, nachdem 1990 die Unabhängigkeit proklamiert wurde, sich als ein von der kommunistischen Vergangenheit schnell befreites Land darzustellen. Dabei wird für die westlichen Experten wie für die einfachen Einwohner der Staaten der Europäischen Union die ganze Palette der Probleme bei der Formierung der Identität Lettlands oft unsichtbar bleiben.

An sich war das Baltikum und Lettland, besonders aber Riga, seit Jahrhunderten ein multikultureller Ort. Letten, Russen, Juden, Deutsche und viele andere ethnische Gruppen prägten Lettland. Diese Koexistenz gehörte einfach zu der kulturellen Landschaft.

Dabei erlebte die ethnische Mehrheit in den Gebieten des heutigen Lettlands bis zum Ende des 19. Jahrhunderts viele Fremdherrschaften. Erst seit den 1860er-Jahren entstanden für die Letten die Voraussetzungen, eine eigene Identität zu gestalten. In der Zeit, als in vielen künftigen osteuropäischen Staaten die nationalen Bewegungen an Bedeutung gewannen, entwickelte sich auch unter den Führern des lettischen nationalen Erwachens die Vorstellung von einer gottgewählten Nation der Letten. Alles, worin man die Identität des Letten charakterisiert sah, sollte damals als einzigartig gelten.

Als Ergebnis solcher nationalen Rhetorik entstand eine lettische Identität, die sich völlig außerhalb ihres historisch-kulturellen Kontextes befand. Wobei die Ironie darin lag, dass genau die Elemente, die als rein lettische galten, mit internationalen Mitteln entwickelt wurden: Das Vereinswesen und die entstehende nationale Presse propagierten eine freiwillig gewählte Isolierung, die für die nationale Kultur damals als notwendiger Habitus galt. Dabei entstand die Situation, dass die lettische Identität, die zurzeit von allen Abgesandten der EU als ein wesentlicher Beitrag zur kulturellen Vielfalt Europas bezeichnet wird, noch heute in einem komplizierten Verhältnis zur europäischen Identität steht: Man möchte sich gleichzeitig in wie außerhalb Europas sehen.

Im Moment dreht sich die Hauptkontroverse um das Konzept der ethnischen und der politischen Nation. Denn im Alltag ist es immer noch unvorstellbar, dass etwa ein Russe oder Georgier, also ein Bürger Lettlands, der ethnisch anderer Herkunft ist als die Mehrheit der Einwohner, als Lette bezeichnet wird, auch wenn er sich zu den politischen Werten, der Verfassung und durch die Sprache auch zur Kultur des Landes bekennt. Es gibt eben Letten und es gibt Russen. Ein Zeichen für den schwierigen Übergang zur politischen Nation ist der für die ethnischen Minderheiten ausgedachte Begriff „Lettländer“. Die Tatsache, dass im Pass immer noch die Bezeichnung der Nationalität steht und im Alltag immer noch gefragt wird, ob man Lette oder Russe sei, zeigt sehr deutlich, dass das Land nach innen immer noch zersplittert ist.

Zwar wurde vor zwei Jahren das Programm der nationalen Integration von der Regierung ausgearbeitet und von den Intellektuellen an den Hochschulen und in den zahlreichen Kulturvereinen diskutiert. Doch bei der Finanzmisere, die Bücher und Reisen durch die hohen Preise nur für eine begrenzte Gruppe der Einwohner zugänglich macht, droht die nationale Kultur, die für andere ethnische Gruppen als Integrationsgrundlage angeboten wird, selbst gar nicht fähig zu sein, neue Kultursubjekte in sich aufzunehmen.

Lettland sollte, bevor es außenpolitisch den Beitritt zu Europa wagt, den innenpolitischen Beitritt der so genannten Nichtbürger vollziehen. Immerhin, trotz der knappen Mehrheit zeigte die Volksabstimmung von 1998, die die Einbürgerung erleichterte, dass es möglich scheint, einen neuen Anfang der Koexistenz verschiedener Nationen unter dem einen Dach Lettland zu finden. Acht Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit, die 1918 errungen, 1940 mit der Besetzung durch die Russen wieder geendet hatte.

Auch bei uns gibt es Europaskeptiker und Optimisten. Letztere Gruppe repräsentiert die mittlere Generation, die berufstätig und finanziell unabhängig ist. Diese Optimisten haben die Europäische Bewegung gegründet, einen Verein, geleitet von A. Dimants, einem angesehenen Politiker und Intellektuellen. Bei der jüngeren Generation gibt es grundsätzlich ein stabiles positives Verhältnis zum EU-Beitritt.

Dagegen vertritt die Partei Für Vaterland und Freiheit (Tevzemei un Brivibai) rechtskonservative Interessen. Sie hatte das Referendum unter dem Stichwort „Für ein lettisches Lettland“ auch initiiert. Ihre Klientel ist die ältere Generation, die den Beitritt zu jeder übernationalen Struktur eindeutig ablehnt. Trotzdem ist die nationalistische Partei ein Indiz für die positiven Entwicklungen des politischen Klimas – von einer Mehrheit ist die Partei bei der geringen Zahl ihrer Wahlstimmen weit entfernt.

Der gesellschaftliche Diskurs über den Beitritt ist beredt. Die lettische Gesellschaft baut ihr Verhältnis zu Europa auf der Fähigkeit auf, diese neue Beziehung überhaupt auszuhalten. Und das heißt in einem wiederbelebten eigenständigen Nationalstaat, wo der Nationalismus als eine progressive Energie verstanden wird, die zur eigenen Identität beiträgt, die Fähigkeit, alltägliche Elemente einer übernationalen Struktur aufzunehmen. Hier werden natürlich die Stimmen laut, die behaupten, dass es für ein so kleines Land nicht möglich ist, die nationale Kultur zu bewahren. Die Frage nach dem Inhalt dieser nationalen Kultur ist auch die Frage: Wie viel von einem Europäer findet sich in einem Letten?

Im Mai dieses Jahres wird die Europäische Bewegung der Gastgeber für die Konferenz über die Perspektiven der EU in Nordeuropa sein. Wird dieses Treffen die Bereitschaft der Intellektuellen demonstrieren, die europäische Identität in Lettland voranzubringen? Diese Fragen kann man heute noch nicht beantworten. Aber auf der Ebene des kulturellen Austausches könnte man sie wohl positiv beantworten. Der Literatur Express, der im Juli 2000 nach Riga kam, zeigte symbolisch, dass die Eisenbahnwege – trotz vieler Grenzen – Lettland mit der intellektuellen Europäischen Union schon verbinden. Wichtig ist, dass dieser Zugang zu Europa als kulturellem Raum, in dem Lettland seine Position finden kann, für breite Bevölkerungsschichten offen steht. Sonst muss man, bei einer Bevölkerungsmehrheit, die durch die schwierige finanzielle Lage ganz auf das kulturelle Angebot des eigenen Staates begrenzt ist, die Akzeptanz der gesamteuropäischen Vorstellungen und Muster bezweifeln.

Zu den indirekten Agenten der europäischen politischen Kultur gehören in Lettland nicht nur die Hochschulen, sondern auch zahlreiche Vereine. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung der Nongovernmental Organisations in Lettland ein anderes positives Merkmal der politischen Kultur. Sie beschäftigen sich nicht direkt mit den Fragen der EU, verwandeln aber die abstrakten Vorstellungen von Europa in ihren alltäglichen Aktivitäten in konkrete Formen der internationalen Zusammenarbeit. Dabei ist die Aktivität dieser Vereine auch nach innen von großer Bedeutung, in Richtung einer kulturellen Integration der verschiedenen Kulturen. Durch solche Vereine wird die lettische Gesellschaft nicht nur die europäische Kultur immer wieder aktiv aufnehmen, sondern die Basis für einen kulturellen Konsens der verschiedenen Kulturgemeinschaften finden. Dafür muss aber der Beitritt tatsächlich zu einer Auseinandersetzung mit den europäischen Kulturen führen.

Falls die Bevölkerung, in der ein Teil der Einwohner die EU mit der abstrakten politischen Identität der Sowjetunion gleichsetzt, aus der kulturellen Globalisierung der Welt ausgeschlossen bleibt, kann durch die Stimmen der frustrierten Wähler die Tradition der europafreundlichen und liberalen Regierung nicht lange stabil bleiben. Unwissenheit ist ein fruchtbarer Boden für Ängste und politische Extreme. Die Hauptfrage der Identität, „Wer sind wir?“, sollte nicht mit der Frage „Wer sind wir nicht?“ beantwortet werden. Das Land als Beitrittskandidat braucht einen beschleunigten Prozess der Definition der nationalen Kultur, damit ihre Integration und Rückkehr in die europäische politische Union nicht wieder einen unvollendeten Nationalismus zeigen. Der EU Beitritt zeigt deshalb am deutlichsten, wie teuer für das Land und für das gesamte Europa der unterbrochene Prozess der nationalen Identitätsbildung sein kann.

Deniss Hanovs ist Kulturwissenschaftler und lebt in Riga. Er ist ethnischer Russe und seit einem Jahr lettischer Staatsbürger.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme 1989/90 bedeutete für viele Staaten Mittel- und Osteuropas den Startschuss für ihre „Rückkehr nach Europa“, die sich konkret in den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union manifestiert. Dabei interessieren mehr denn je Fragen nach der politischen Kultur der zehn Beitrittsländer. Am 15. Januar analysierte Gabriele Lesser das polnische Wort „Ende“, und am 23. Januar beleuchtete Magdalena Marsovszky die Medienpolitik der positiven Diskriminierung in Ungarn. Am 30. Januar schrieb William Totok über Gheorghe Buzatu, der in Rumänien dumpfen Rassismus in die Form geschliffener Geschichtstheorien bringt.

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