Erbitterter Konflikt um die Scharia

In Bangladesch wird eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Islamisten und den Anhängern einer säkularen Gesellschaft geführt. Anlass ist ein Urteil, das religiöse Richtersprüche für ungesetzlich erklärt. Im Sommer wird gewählt

von BERNARD IMHASLY

Wenn man in Pakistan von „Talibanisierung“ spricht, sehen die einen darin eine Gefahr, andere jedoch eine Wunschvorstellung. Der Begriff bezeichnet die Angst, dass die Geschicke des Landes in die Hände religiöser Kräfte kommen könnten, wie dies im benachbarten Afghanistan bereits geschehen ist. In Bangladesch wird das gleiche Phänomen „Pakistanisierung“ genannt. Es ist ein Indiz für die weitläufige Meinung, dass Pakistan mit der Einführung der islamischen Scharia als oberstes Gesetz den entscheidenden Schritt zur Islamisierung bereits getan hat.

Doch in Bengalen, das sich im Unabhängigkeitskrieg von 1971 vom damaligen Westpakistan getrennt hat, verbindet sich mit dem Wort „Pakistanisierung“ nicht nur die Furcht vor einer Islamisierung. Auch die Angst vor einem Wiederanschluss an Pakistan schwingt dabei mit. Es ist diese Polarität von Religion und Nationalismus, die bisher verhinderte, dass Bangladesch mit seiner zu 90 Prozent muslimischen Bevölkerung den Islam zur Staatsideologie machte.

Der Beweis dafür kam an diesem 1. Januar, als das Oberste Gericht von Dhaka beschied, religiöse Richtersprüche – „Fatwas“ – seien ungesetzlich. Menschenrechtsorganisationen begrüßten das Urteil als „Meilenstein“. Regierungsunabhängige Organisationen (NGOs) sahen darin einen klares Urteil gegen die Unterdrückung von Minderheiten und Frauen, welche die Mullahs mit ihren Urteilen in vielen Dörfern ausüben.

Zu Beginn der 90er-Jahre wurde eine Frau nach einer Fatwa gesteinigt, und die Schriftstellerin Taslima Nasreen floh 1994 aus Angst vor vor einem auf sie ausgesetzten Kopfgeld ins Exil. Am 3. Februar riefen die zahlreichen NGOs zu einer großen Demonstration in Dhaka auf, um ihrer Unterstützung einer säkularen Staatsordnung Ausdruck zu verleihen.

Die Islamisten waren allerdings nicht bereit, das Urteil hinzunehmen. Die „Islami Aikya Jate“ (IAJ), ein Zusammenschluss dieser Gruppen, legte beim Obersten Gericht Berufung ein. Die IAJ forderte prompt in einer Fatwa den Tod der beiden obersten Richter und setzte alles daran, die Demonstration der NGOs zu verhindern. An den Einfallstraßen nach Dhaka errichteten sie Straßensperren. Bahngleise wurden aufgerissen, was zur Entgleisung eines Zugs mit zahlreichen Verletzten führte. Und mit selbst gebastelten Bomben und Eisenstangen bewehrte Trupps stürmten aus Seitenstraßen auf die friedlichen Demonstranten ein. Die Regierung reagierte mit dem Einsatz von Polizei und paramilitärischen Einheiten. Zahlreiche Personen wurden verletzt, und zwei Personen starben, als eine Bombe explodierte, die sie bei sich trugen. Drittes Opfer war ein Polizist, der in eine Moschee geschleppt und dort zusammengeschlagen wurde.

Ein Tag später wurden die beiden IAJ-Führer und Dutzende ihrer Anhänger verhaftet; bei Razzien in Islamschulen wurden Waffen konfisziert. Als es darauf zu Protesten von IAJ-Anhängern kam, wurden in der Grenzstadt Brahmanbaria weitere sieben Personen von der Polizei erschossen.

Die selbstbewusste Herausforderung von Staat und Zivilgesellschaft durch die radikalen Eiferer ist in deren Strategie ein neues Element. Beobachter führen es darauf zurück, dass die IAJ nun auch Teil der großen Allianz der Oppositionsparteien ist. Diesem Zusammenschluss unter Führung der ehemaligen Regierungspartei „Bangladesh Nationalist Party“ (BNP) gehörte früher – neben der Partei des ehemaligen Militärdiktators Ershad – lediglich die „Jamaat Islami“ an. Mit dem Beitritt der IAJ hat die Allianz nun eine betont religionspolitische Färbung angenommen. Auch die Allianz-Vorsitzende Begum Khaleda Zia hat sich ihr angeschlossen. Sie ist die große Widersacherin von Premierministerin Sheikh Hasina, die Zia in den Wahlen von 1996 in die Opposition geschickt hatte.

Der Zeitpunkt der Ausschreitungen ist daher nicht nur die Folge des Gerichtsurteils gegen die Fatwas. Am 12. Juli läuft die Regierungszeit von Sheikh Hasina ab, und dann wird eine Übergangsregierung Neuwahlen vorbereiten. Die Demonstrationen und Gegendemonstrationen ebenso wie das harte Durchgreifen der Regierung sind Vorboten des Wahlkampfs im kommenden Sommer. Die Gewaltbereitschaft der Islamisten wird in Dhaka als Indiz gelesen, dass sie nicht sicher sind, bei einem fairen Wahlkampf als Sieger hervorzugehen. Die IAJ ist im Parlament nicht vertreten, und die Jamaat hat nur 2 der 300 Mandate.