Sex rührt Klassenbewusstsein

Das Ich im Anderen: Jean-Pierre Denis’ Thriller „Les Blessures Assassines“ und Claude Venturas Dokumentation „En quête des soeurs Papin“ widmen sich im Panorama einem der berühmtesten französischen Mordfälle des 20. Jahrhunderts

von HARALD FRICKE

Für die Staatsanwaltschaft waren Christine und Lea Papin völlig normal. Und auch die Psychiater konnten in dem Doppelmord an Madame Lancelin und ihrer Tochter keine Verzweiflungstat von zwei geistig verwirrten Dienstmädchen erkennen. So verurteilte man Christine Papin zum Tode, was später in lebenslange Zwangsarbeit abgemildert wurde; ihre jüngere Schwester bekam zehn Jahre Gefängnis. Christine Papin starb schon wenige Jahre danach, Lea lebt bis heute unerkannt in ihrem Geburtsort Le Mans. Über das Verbrechen spricht die mittlerweile 88-jährige Dame kein Wort, auch nicht über die angebliche Inzestbeziehung zwischen den beiden Mädchen, die Auslöser für das Blutbad gewesen sein soll.

Soweit die Zutaten zum Mythos, über den Frankreichs Intellektuelle viel gerätselt haben. Für Simone de Beauvoir war es der Aufschrei gegen das System der Bourgeoisie, Jean Genet sah darin die (homosexuelle) Befreiung des Proletariats, und bei Jacques Lacan wurde die hoffnungslose Liebe der Schwestern zum Motiv des paranoiden Verbrechens. Der Regisseur Jean-Pierre Denis hat aus der Geschichte einen Psychothriller gemacht, bei dem sich falsch verstandene Sexualität und richtig verstandenes Klassenbewusstsein zärtlich berühren. Nur hinter das Geheimnis der Schwestern Papin ist er nicht gekommen. Aber das hat auch Claude Ventura mit der zeitgleich für die selbe Produktionsfirma gedrehten Dokumentation nicht geschafft – und der ist immerhin bei Madame Papin zum Tee auf Besuch gewesen.

Stattdessen hat Denis vor allem: Sylvie Testud. Gleich im ersten Bild schaut sie einen mit dunkel unterlaufenen Augen in Großaufnahme an, als ob sie nur schreien müsse, und die französische Revolution würde von neuem beginnen. Dabei will sie nichts Schlechtes. Als ihre Eltern sich trennen, kümmert sie sich um Lea; die Mutter wollte eigentlich keines der Mädchen und braucht sie doch als Altersvorsorge. Denis reicht es, mit stillen Einstellungen ohne jede Musik einfach nur zuzusehen, wie die Kinder wachsen, wie sie unter Mutters Hartherzigkeit leiden, wie der Faden immer mehr aufraut, der den Wahn im Zaun der Wirklichkeit hält. Ohnehin liest sich der Fall wie von selbst: Bei Christine entwickelt sich die frühe elterliche Abweisung zum Hass auf alles Familiäre. Zugleich sucht sie die fehlende Liebe bei ihrer kleinen Schwester, der sie sich als Mutterersatz andient, bis Lea zum sexuellen Ersatzobjekt gereift ist. Das klingt ein wenig verstiegen, doch im Film reichen ein paar Seufzer von Christine, wenn Lea durchs Zimmer stapft, und man weiß, mit welcher Wucht das unterdrückte Innen nach Draußen drängen wird.

Ihrer Liebe zu Lea folgt, es nicht mehr mit sich selbst aushalten zu können: Weil das Ich erst im Anderen erträglich wird, soll ihr dieses Andere möglichst nah sein, am besten identisch. Dass Denis die Paarung gelingt, verdankt er Julie-Marie Parmentier, deren konzentrierte Unbefangenheit wie ein stehendes Gewässer wirkt, in dem sich Testud/Christine hervorragend spiegeln kann. Dieses doppelte Ich macht zwar keine von beiden ganz, dafür aber unglaublich stark. So stark, dass sich plötzlich auch die entwürdigende Stellung als Dienstmagd im Blutrausch an der Herrin entlädt.

Vielleicht sind die Papins für den einen Moment, in dem sie ganz bei sich und doch gar nicht da waren, verurteilt worden. Die Sprache, in die der Film diesen schwer greifbaren Zustand übersetzt, ist eine der körperlichen Anziehung. Manche werden darin schlimmstenfalls ein bisschen Fummeln zwischen zwei Schwestern sehen. Und Lea Papin wird weiter schweigen.

„Les Blessures Assassines“. Regie: Jean-Pierre Denis, Frankreich, 94 Min.„En quête des soeurs Papin“. Regie: Claude Ventura, Frankreich, 94 Min.