Reinickendorfer Schüler geben der Wirtschaft Kredit

Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter: Waldorfschüler wollen mit der Aktion „Missing link“ dem Stiftungsfonds der deutschen Wirtschaft auf die Sprünge helfen

„Wir wollen Vermittlungsorgan zwischen Zwangsarbeitern und Wirtschaft sein“

„Missing Link“ heißt das Projekt der Schüler der Waldorfschule im Märkischen Viertel. Denn die Jugendlichen wollen nicht weniger als ein „Vermittlungsorgan zwischen Zwangsarbeitern des NS-Regimes und der deutschen Wirtschaft“ sein, eben das fehlende Verbindungsstück.

Ein solches Verbindungsstück scheint auch bitter nötig. Denn die Geduld der NS-Opfer ist am Ende: 5 Milliarden Mark hat die Wirtschaft der Bundesstiftung zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter zugesagt – und bisher lediglich 3,6 der zugesagten 5 Milliarden Mark eingesammelt.

Im vergangenen Herbst beschlossen die Waldorfschüler, in „Vorleistung“ zu treten. „Beschämend“ findet der 18-jährige Nepomuk Wahl, dass die Entschädigung immer weiter verschoben werde. Zusammen mit vier Mitschülern hat er deshalb eine Sammelaktion organisiert: In einem „Manifest“ rufen die Jugendlichen zu Spenden auf ein Sonderkonto der Heinrich-Böll-Stiftung auf. Das Geld wollen die Waldorfschüler der Stiftungsinitiative als zinslosen Kredit überlassen – und den Scheck in den nächsten Wochen medienwirksam überreichen.

„Auf diesem Geld werden keine Erwartungen hinsichtlich der Rechtssicherheit ruhen“, sagt Lehrer Michael Benner. Ein kleiner Seitenhieb in Richtung Stiftungsinitiative. Denn diese will ihren Anteil erst zahlen, wenn alle Klagen gegen deutsche Firmen in den USA abgewiesen sind. So steht es im Stiftungsgesetz und doch musste sich die Initiative in den vergangenen Wochen von Politik und Opfervertretern „Verzögerungstaktik“ vorwerfen lassen.

Heute vor genau zwei Jahren hatte die eigens gegründete Stiftungsinitative mit Sitz in der Mauerstraße ihre Sammelaktion begonnen. Doch trotz 200.000 Briefen an sämtliche Unternehmen der Republik mit mehr als zehn Mitarbeitern und einer groß angelegten Anzeigenkampagne beteiligen sich lediglich 5.800 Firmen am Entschädigungsfonds. Stattdessen ruft die Initiative immer lauter nach Rechtssicherheit.

Die Schüler kritisieren in ihrem Manifest denn auch die Zahlungsmoral der Firmen scharf: „Berliner SchülerInnen sind bestürzt über das zögerliche Verhalten und verstehen nicht, warum in Teilen der Wirtschaft so wenig geschichtliche Verantwortung zu finden ist.“

Mit ihrer Wut stehen die Reinickendorfer Waldorfschüler offenkundig nicht alleine da: Immerhin 4.200 Mark sind inzwischen auf dem Sonderkonto eingegangen – von Freunden und Bekannten, Mitschülern und Eltern. 2.000 Mark spendete der Förderverein der Heinrich-Böll-Stiftung.

Ihr „Manifest“ haben die Waldörfler inzwischen an alle Rudolf-Steiner-Schulen in Deutschland verschickt und auch die Berliner Schulverwaltung will die Aktion unterstützen. Diese hat zugesagt, von den Schülern erstellte Info-Mappen über die Zwangsarbeiterproblematik an alle Schulleiter in der Stadt zu verteilen. Die Waldörfler hoffen nun, über diesen Weg möglichst viele andere Schüler zu erreichen.

„Je mehr Geld, desto besser“, sagt Nepomuk Wahl. Wenn Rechtssicherheit gegeben ist und die Stiftungsinitiative ihren Anteil zahlt, wollen die Schüler den Kredit zurückfordern. Das Geld soll besonders hilfsbedürftigen NS-Opfern zugute kommen: Zwangsarbeiter, die aus dem Raster des Stiftungsgesetzes herausfallen, hochbetagten Antragstellern oder Anspruchsberechtigten etwa in der Ukraine, die im Vergleich zur Kaufkraft nur eine geringe Entschädigung zu erwarten haben.

Bei der Auswahl der Opfer wollen sich die engagierten Waldorfschüler vom Bundesverband Beratung und Information NS-Verfolgter und dem Verein „Gegen Vergessen, für Demokratie“ beraten lassen.

Die Idee zu dem Projekt kam den Schülern nach einer Unterrichtsstunde in Geschichte, in der sie über die Zwangsarbeiterproblematik diskutierten. „Als Historiker will ich das Thema nicht in zehn Jahren in den Geschichtsbüchern lesen“, begrüßt Lehrer Benner das Engagement seiner Schüler. „Das ist jetzt aktuell.“

NICOLE MASCHLER