Der Blick aus der Limousine

Seit fünfzehn Jahren bespielt der Soziologe Ulrich Beck jedes verfügbare öffentliche Forum mit seinen höchst anschlussfähigen Trendformeln. Doch bei seinen metapolitischen Diagnosen ist Empirie Mangelware. Eine kritische Bilanz

von MARK TERKESSIDIS

Mitte der Neunzigerjahre besuchte der Soziologe Ulrich Beck Brasilien. Dort gewann er nach eigener Aussage eine „erste Anschauung“ davon, „was hier auf uns zukommt“. Diese Anschauung bezog er aus einem prägenden Erlebnis in Rio de Janeiro. „Meine Frau und ich wurden vom Direktor des Goethe-Institutes durch das nächtliche Rio gefahren“, berichtet Beck. „Unser liebenswürdiger Fahrer missachtete mit kaum noch zu übersehender Beständigkeit das rote Stopplicht der Ampeln.“ Der Soziologe wunderte sich über dieses Verhalten und fragte beim Chauffeur nach. „In Rio fahren alle nachts bei Rot über die Ampel. Wer anhält, riskiert überfallen zu werden.“

Beck, der bekanntlich überall „demokratische“ Mechanismen am Werke sieht, schloss spontan daraus: „Unter den Bedingungen der massenhaft in die absolute Hoffnungslosigkeit Gestoßenen müssen sich am Ende alle bewaffnen, und es bleibt auch für die Reichen und ,Gesicherten‘ nur die Wahl, überfallen oder überfahren zu werden.“ Diese Episode findet sich in einem Text von 1997. Zwei Jahre später konkretisierte Beck in „Schöne neue Arbeitswelt“ seine Hypothese und sprach nun von der „Brasilianisierung“ des Westens. „Tausend prekäre Arbeitswelten“, hieß eine Zwischenüberschrift „oder: warum Europas Zukunft der Arbeit in Brasilien besichtigt werden kann“.

Es ist durchaus typisch für den mittlerweile bekanntesten deutschen Soziologen, dass die Perspektive der „ersten Anschauung“ aus dem Fenster eines Goethe-Institut-Fahrzeuges stattfindet, während der Chauffeur zum Informanten über die Realität „draußen“ wird. Das Denken in der Sicherheit der Limousine, welches Ulrich Beck pflegt, lässt seine andauernde Präsenz und sein hektisches publizistisches Engagement in einem anderen Licht erscheinen. Denn tatsächlich bewegt sich alles, was Beck schreibt, auf einer Metaebene, die mit dem Blick aus dem Autofenster korrespondiert: Von der sicheren Warte aus beschreibt er das Geschehen und macht schließlich der offiziellen Politik und einer Öffentlichkeit von Limousinenbenutzern moderierende Vorschläge zur Neuordnung der Dinge.

Das gerade erschienene Buch „Freiheit oder Kapitalismus“ zeigt noch einmal, dass mit Ulrich Beck vor allem drei Schlagworte in Verbindung gebracht werden: „Risiko“, „Individualisierung“ und „Bürgerarbeit“. All diese Konzepte entstanden in direktem Zusammenhang mit den Aktivitäten der Neuen Sozialen Bewegungen beziehungsweise ihrer Schwundformen. Die Rede vom Risiko war nicht zuletzt deswegen so erfolgreich, weil sie die Thematik der Ökologiebewegung in soziologische Betrachtungen übersetzte. Die Diagnose „Individualisierung“ wiederum bezog sich auf Veränderungen, die in erster Linie am mittelständischen Personal der Alternativszene zu beobachten waren.

Zwar wies Beck immer wieder auf die institutionelle Verwurzelung sämtlicher Prozesse in der „reflexiv“ gewordenen Moderne hin. Dennoch waren Grundthesen wie jene von der neuen „biografischen Querverteilung“ von sozialen Gegensätzen – Armut ist kein Gruppenschicksal mehr, sondern ein Lebensabschnitt – offenbar anhand von protesterfahrenen Dauerstudenten gewonnen, die nach einem halben Jahr Indien in Deutschland einen Rikschabetrieb aufmachten, um nach einem Zwischenstopp beim Sozialamt in der Kreativabteilung irgendeines Unternehmens anzukommen.

1995 ließ Beck die Idee vom „eigenen Leben“ in einem Buch gleichen Titels durch Fotos von Timm Rautert und biografische Skizzen von Ulf Erdmann Ziegler illustrieren. Dabei beinhaltete dieses Buch zum größten Teil Geschichten aus dem Leben der gesetzteren Ex-Alternativszene. Die „Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben“ galten eher einer Versammlung von allzu bekannten Figuren: die lesbische Steuerfachgehilfin, der schwule Akademiker, der alleinstehend-unpatriarchale Vater, der Punk-Computerfachmann, der Skater. Zusammen mit den ebenfalls auftauchenden Lehrerinnen, Frauenärztinnen oder Taxiunternehmern würde dieses Milieu heute unter „Neue Mitte“ firmieren. Obwohl Arbeiter immer noch einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung ausmachen, kamen sie hier ganz einfach nicht vor. Und auch wenn Beck zwischen „Risikobiografien“ und kaum noch zu kalkulierenden „Gefahrenbiografien“ unterschied, blieben die gefährdeten Existenzen konsequent draußen.

Der Unterschied zu Pierre Bourdieus Interviews in „Das Elend der Welt“ könnte größer kaum sein. Direkt beschönigt wird bei Beck nichts, aber „eigenes Leben“ hat stets einen positiven Unterton. Zudem sucht man in seinem Buch über die „schöne neue Arbeitswelt“, das angefüllt ist mit „Trends“, „Szenarien“ und „Zukunftsvisionen“, vergeblich nach der Empirie von Arbeit im neuen Milieu der Selbstverantwortung. Dabei sind in den Neunzigern Werte wie Selbstbestimmung oder Selbstverwirklichung gerade in den so genannten Zukunftsbranchen reichlich auf den Hund gekommen. Seitdem das Management der immer größer werdenden Unternehmen begriffen hatte, wie viel Zeit Menschen um ihrer Selbstverwirklichung willen in der eigenen Klitsche intensiv zu arbeiten bereit waren, wurde der starre Gesamtapparat in eben solche Klitschen zerschlagen – in eigene oder „outgesourcete“.

Viele Mitarbeiter solcher Miniunternehmen gleichen ihre oft nicht berauschenden Arbeitsbedingungen quasi autoideologisch aus, indem sie darauf beharren, wie erfüllend ihr Job ist. Ein Musikredakteur bei einem erfolgreichen „jungen“ Radiosender beschönigte mir gegenüber einmal seine recht stumpfe Tätigkeit – Charts rauf und runter spielen – bei gleichzeitig mickrigem Einkommen mit dem Hinweis darauf, wie viel Spaß es ihm machen würde, den Musikgeschmack von Teenies beeinflussen zu dürfen. Die geschlossenen Arbeitswelten in „Kultserien“ wie Ally McBeal haben mittlerweile auch in Deutschland ihre Entsprechung: In manchem Multimedia-Unternehmen verbringt man so viel Zeit vor den Bildschirmen, dass man seine Freunde schon dort rekrutieren oder jobmäßig unterbringen muss, damit man sie überhaupt noch zu Gesicht bekommt.

Währenddessen haben sich die traditionellen Normierungsinstanzen in virtuelle Normalisierungsprinzipien verwandelt: Zwar haben Familien oder Schulen ihren direkten Zwangscharakter eingebüßt, doch als stählerne Prinzipien decken sie weiter den Horizont ab – irgendwo zwischen „Technofamilien“ und permanentem Fortbildungsterror. In solche Niederungen der Empirie begibt sich Ulrich Beck auf der Suche nach dem „experimentellen Leben“ selten. Die Abdankung des Arbeitnehmers ist ohnehin Schicksal. „Das Leitbild der Zukunft“, konnte man in den Ergebnissen jener „Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen“ nachlesen, an der Beck beteiligt war, „ist das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge“.

Mittlerweile ist er weniger optimistisch; in „Freiheit oder Kapitalismus“ heißt es gar: „Wir haben es mit einem „ökonomischen Tschernobyl“ zu tun. Schon seit einiger Zeit sorgt Beck sich nämlich um das Gemeinwohl. In seinem Konzept der „Bürgerarbeit“ packt er dieses an wie ein Manager sein Unternehmen. Während dieser ehemals alternative Wünsche nach „Selbstverwirklichung“ und „Spaß bei der Arbeit“ in Motivationsressourcen ummünzt, will Beck die Ruinen der „Subpolitik“ der Neuen Sozialen Bewegungen zu einer freiheitlichen Sorge um die Allgemeinheit herrichten. Aber dafür muss seiner Meinung nach zunächst die Arbeit ihren zentralen Stellenwert in der Gesellschaft verlieren. Tatsächlich ist es seltsam, sich Attacken auf den „Wertimperialismus der Arbeit“ von einem hyperaktiven Professor-Politikberater-Publizisten anzuhören.

Doch der Vorschlag der „Bürgerarbeit“ ist letztlich nicht gegen das Primat der Arbeit gerichtet – es handelt sich eher um einen Vorschlag zur Kosten senkenden Durchkommerzialisierung und Flexibilisierung des noch weitgehend nach alten Maßstäben funktionierenden sozialen Sektors. Denn es geht Beck um die Schaffung von „Gemeinwohl-Unternehmern“, die er sich in dem Sammelband „Die Zukunft von Arbeit und Demokratie“ aus dem letzten Jahr vorstellt wie „eine Verbindung zwischen Mutter Theresa und Bill Gates“. Und das zur Absicherung solcher Unternehmungen in Aussicht gestellte „Bürgergeld“ wäre dann eine Art Honorar für „politische Leistung“.

Beim Blick aus dem Limousinenfenster hat Beck die immer noch frei flottierende Mobilisierungsgrundlage der Neuen Sozialen Bewegungen – das Engagement aus Betroffenheit – als Mittel zur Restauration des Gemeinwohls entdeckt. Es war immer schon die Aufgabe des Ulrich Beck, die Anregungen der verstreuten Protestbewegungen auf patronisierende Weise der offiziellen Politik nutzbar zu machen. Und während er die „Subpolitik“ lobt, ist immer die „große Politik“ der Adressat seiner metapolitischen Forderungen nach mehr Selbstorganisation. Denn schließlich hat man noch nie davon gehört, dass Ulrich Beck mal für irgendein konkretes Ziel aus der Limousine ausgestiegen wäre und sich selbst organisiert hätte.

MARK TERKESSIDIS, 34, lebt als freier Autor in Köln. Zuletzt erschien von ihm „Migranten“, Rotbuch Verlag, Hamburg 2000, 96 Seiten, 14,90 Mark