Legal, illegal, ein Risiko allemal

von LUKAS WALLRAFF

Immer mehr Menschen leben illegal in Deutschland und kaum jemand kümmert sich um eine Lösung dieses Problems. Zumindest nicht im Bundestag: „Keiner will doch wirklich ran an das Thema Illegale“, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Eckhardt Barthel, „alle haben Angst, dass man sich die Finger verbrennt.“

Schwester Cornelia Bührle kennt diese Vorbehalte zur Genüge. Seit Jahren setzt sich die Migrationsbeauftragte des Berliner Erzbischofs für Menschen ein, die keine Papiere, geschweige denn eine Lobby haben. Eine mühsame „Mosaikarbeit“. Doch seit gestern hat Schwester Bührle einige Argumente mehr.

Der Jurist Ralf Fodor hat das erste umfassende Rechtsgutachten zur Situation von „ausländischen Staatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht und ohne Duldung“ vorgestellt. Auftraggeber: das katholische Erzbistum Berlin. Fodors Ergebnisse sollen den Politikern „Anregungen für eine Positionsbestimmung“ liefern. Und weiter Druck machen: Schon im November wendeten sich Bührle und weitere kirchliche Mitstreiter an den Petitionsausschuss des Bundestags. Freundlich im Ton („mit der Bitte um Hilfe“), aber deutlich in der Sache. Die Politiker sollen endlich für die „Sicherung von Menschen- und Grundrechten“ für Menschen ohne Papiere sorgen.

Das neue Gutachten weist akribisch nach, dass auch „Illegale“ Rechte auf ein menschenwürdiges Leben haben – theoretisch. In der Praxis können sie diese Rechte nur bekommen, wenn sie sich bei den Behörden melden. Was natürlich kaum ein „Illegaler“ tut. Aus Angst vor der Abschiebung trauen sich viele nicht einmal, zum Arzt zu gehen. Denn der müsste sie verpfeifen.

Helfer als Denunzianten

Nach dem Ausländergesetz können sich Deutsche der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt schuldig machen, wenn sie „Illegalen“ helfen, ohne sie zu melden. Für die Helfer lautet die Alternative: Denunzieren oder Gesetze brechen. Auch wenn Verstöße gegen die „Übermittlungspflicht“ selten geahndet werden, haben die Beratungsstellen der Kirche ein „hohes Maß an Rechtsunsicherheit und Loyalitätskonflikten“ beobachtet. Denn vielen ist gar nicht klar, ob und wann sie „Illegale“ melden müssen. Hier schafft Fodors Gutachten etwas mehr Klarheit (siehe Kasten). Was bleibt, ist die ungeklärte Frage, wer die „heimlichen“ Hilfeleistungen bezahlen soll. Als ein kranker Mann ohne Papiere kürzlich einen Herzschrittmacher brauchte, konnte das Berliner Erzbistum erst nach zweiwöchiger Bettelarbeit einen großzügigen Sponsoren finden.

Nicht nur die Kirchen sind „mehr und mehr an die Grenzen ihrer Hilfemöglichkeiten“ geraten. Auch viele der staatlichen und privaten Einrichtungen, die mit „Illegalen“ zu tun haben, fühlen sich überfordert und allein gelassen. Kein Wunder: Zwischen 500.000 und 1 Million Menschen ohne Papiere sollen mittlerweile in Deutschland leben. Es liegt in der Natur der Sache, dass niemand genau sagen kann, wie viele es sind. Aber dass die Zahl seit Anfang der 90er-Jahre stetig zunimmt, bestreitet niemand. Seit der Öffnung der Mauer kommen immer mehr Menschen aus dem Osten, die unsichere Billigjobs annehmen. Seit der Verschärfung des Asylrechts 1993 machen auch die Schleuserbanden noch bessere Geschäfte, die Menschen wie Vieh ins Land schmuggeln und anschließend ihrem Schicksal überlassen. Dazu kommen abgelehnte Asylbewerber, deren Duldung abgelaufen ist, Zwangsprostituierte, die vor ihren Zuhältern fliehen und natürlich auch Kriminelle, die freiwillig im Untergrund leben. All diese Probleme sind bekannt, aber eben höchst kompliziert. Und so scheint auch unter Rot-Grün die bewährte Devise zu gelten:

„Legal, illegal, scheißegal“. Bevor man etwas falsch macht, macht man lieber nichts.

Die Sozialdemokraten wollen den Teil ihrer konservativen Wählerschaft nicht vergraulen, der alle „Illegalen“ für „Schmarotzer“ hält. Diese Klischees werden weiter gepflegt. Erst am Mittwoch schrieb Bild: „Illegale Ausländer, ein Trend der letzten Jahre. Ihr Ziel: In Berlin leben, Leistungen abzocken.“ Direkt unter dem Artikel über die „Abzocker“ platzierte Bild „die neuen dramatischen Zahlen“ aus dem aktuellen Tierschutzbericht, angereichert mit dem herzzereißenden Foto eines herrenlosen Hundes hinter Gittern im Tierheim und der sinnigen Frage: „Haben die Berliner kein Herz mehr für Hunde?“ Da braucht ein Sozialdemokrat schon Mut, wenn er sich für Verbesserungen für Menschen einsetzt. Könnte ja Stimmen kosten. Die Grünen wiederum wollen es sich nicht mit dem Teil ihrer Anhänger verscherzen, der sich an ihre alten Forderungen erinnert und weiter für eine „Legalisierung aller Illegalen“ eintritt. Weil sich diese Haltungen nur schwer zusammenbringen lassen, wird das Problem weiter verdrängt und vertagt. Nach dem bisher einzigen Fachgespräch ihrer Fraktion im vergangenen Sommer übten sich die Grünen in der bewährten und bequemen Zurückhaltung aller Vorgängerregierungen: „Wir hoffen, dass Kirchen und Wohlfahrtsverbände auch in Zukunft den Betroffenen helfen.“

Ein Wunsch, den das Berliner Erzbistum auf seine Weise erfüllt. Schon 1993 forderte Kardinal Georg Sterzinsky, das Thema Illegalität zu „enttabuisieren“. Nun will Schwester Bührle, dass „das Thema auch in der Zuwanderungskommission von Rita Süssmuth behandelt wird.“

Rechtlos ausgeliefert

Die gelernte Juristin ist keine Träumerin. Sie hält ihre Klientel nicht für eine Schar unschuldiger Engel. „Wir bestreiten auch nicht das Recht des Staates, seine Grenzen zu schützen.“ Allerdings helfe das alles nicht weiter, „wenn die hier betroffenen Menschen in existenzielle Notlagen geraten“. Eine gesicherte Grundversorgung läge auch im öffentlichen Interesse. Wenn sich Kranke nicht behandeln lassen, „können sie Krankeiten übertragen“. Wenn Kinder keine Schulen besuchen, so Schwester Bührle, „wächst ein Potenzial von Analphabeten heran, das wir uns nicht leisten können. Wer nicht sozialisiert wird, wird wirklich kriminell.“ Wenn Unternehmer wissen, dass illegale Arbeiter ihren Lohn nicht einklagen können, „wird erst der Anreiz geschaffen, dass sie überhaupt eingestellt werden“.

Schwester Bührle hält nichts von Maximalforderungen. Es geht ihr vor allem um konkrete Hilfe in Notsituationen. Weil sie die Bedenken der Politiker kennt, fügt sie hinzu: „Man muss den Innenpolitikern die Angst nehmen, dass immer noch mehr kommen.“ Darum sagt sie auch: „Es geht nicht darum, alle Illegalen zu legalisieren.“

Der pragmatische Weg?

Immerhin haben inzwischen einige Abgeordnete signalisiert, dass sie sich mit der Petition der Kirchenvertreter befassen wollen. „Ich wünsche mir dringend, dass es Verbesserungen gibt“, sagt SPD-Mann Eckhardt Barthel, „damit bin ich nicht allein, aber ich kenne auch die Vorbehalte in meiner Fraktion“. Die Illegalität sei „der schwierigste Bereich überhaupt in der Ausländerpolitik“. Da dürfe man die „Erwartungen nicht hochschrauben“. Dass die Denunziationspflicht im Ausländergesetz gestrichen wird, hält er für unwahrscheinlich. Barthel begibt sich deshalb auf die Suche nach „einem pragmatischen Weg“. Wie der aussehen soll, steht in den Sternen. Die kirchenpolitische Sprecherin der Grünen, Christa Nickels, ist erst einmal „total froh, dass auch Fachpolitiker der SPD sehr gründlich die Problematik aufgerollt haben“. Die Klagen der Kirchen und Wohlfahrtsverbände seien berechtigt. Es könne auf Dauer nicht angehen, „dass die Kirchen zu Ausfallbürgen für staatliches Nichthandeln“ werden. Auch Nickels warnt jedoch vor „Schnellschüssen“. Die Grünen tüfteln erst einmal weiter im stillen Kämmerlein.

Als bisher einzige Fraktion unterstützt die PDS ausdrücklich den Wunsch nach Gesetzesänderungen. Die Vorsitzende des Petitionsausschusses, Heidemarie Lüth (PDS), hofft trotz aller Zurückhaltung, dass es „noch in dieser Legislaturperiode“ zu einer Lösung kommt. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, warnt ihre Politikerkollegen vor Illusionen: „Ich halte es für eine Illusion, wenn man der Bevölkerung verspricht, man wird ein vollkommen von Illegalen befreites Land herstellen.“ Langsam, sehr langsam nähert sich die Politik dem Thema. In der kommenden Woche müssen erst einmal die zuständigen Ministerien auf die Petition reagieren. Dann beraten die Fraktionen, und im Sommer könnte es zu einer Expertenanhörung kommen. Schwester Bührle steht schon bereit.

Literatur: Jörg Alt und Ralf Fodor, „Rechtlos? Menschen ohne Papiere“, Von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe 2001, 230 Seiten, 34 Mark