die wimbledon-lüge:
von RALF SOTSCHECK
Björn B. hat Recht. „Es ist wieder wie 1945“, behauptet der Redakteur des Kryptischen Tagebuchs im WDR. „Keiner will dabei gewesen sein.“ Kaum sei Herr Becker wegen der Trennung von Babs und der Enthüllungen über Frau Setlur und Frau Spermakova öffentlich in Ungnade gefallen, setzt das kollektive Vergessen ein.
„Ich habe mich noch nie für Tennis interessiert“, versichert Wahrheit-Redakteur Michael R. – Augenzeugen, die beschwören, dass er 1985 beim ersten Wimbledon-Sieg Beckers liebevoll vom „blondesten Champion aller Zeiten“ geschwärmt habe, qualifiziert er als Denunzianten ab. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen“, sagt R. Seine Kollegin Corinna S., die als eine der ersten der Bobbele-Manie erlegen war, bezeichnet ihre frühere Gesinnung als Jugendsünde. „Man konnte damals doch gar nicht anders“, erklärt sie. „Was hätten wir denn tun sollen? Wenn man nicht mitgemacht hätte, wäre man doch draußen gewesen, ein Außenseiter, sozial völlig isoliert.“
So mancher versucht, seine Vergangenheit zu vertuschen. Rayk W., der auf dem Hängeboden eine Tasche versteckt hält, die verdächtig wie ein Tenniskoffer aussieht, erklärt mit Unschuldsmiene, dass es sich dabei lediglich um eine Maschinenpistole handle. Verleger Klaus B., der sich früher regelmäßig im Umfeld von Tennisplätzen herumtrieb, behauptet: „Ich war doch nur Balljunge.“ Wiglaf D. beruft sich auf die späte Gnade der Nachgeburt: „Ich war damals noch zu jung und stamme aus Bielefeld.“ Die Kollegin Mithu S., die damals tatsächlich zu jung war, aber nicht aus Bielefeld stammt, spricht sogar von der „Wimbledon-Lüge“: Wimbledon habe es nie gegeben, es sei eine Erfindung der Engländer. Sportredakteur Matti L. hingegen gibt sogar zu, einmal ein Wimbledon-Turnier besucht zu haben. Warum hat er damals nichts unternommen? „Ich hatte doch meine Befehle“, sagt er, „ich musste einen Artikel schreiben.“
Einige wollen schon immer gewarnt haben. „Als Becker Wimbledon gewann, habe ich prophezeit, dass er die Jugend verführen und eine Massenhysterie auslösen würde“, wäscht Carola R. ihre Hände in Unschuld. „Ich habe recht behalten. Die Jungvolkabteilungen der Tennisvereine quollen über, sportpolitische Gegner, wie zum Beispiel Fußballfans, mussten in den Untergrund oder wurden ins Privatfernsehen abgeschoben, manch Fernsehzimmer wurde zur fußballfreien Zone erklärt. Alle wollten nur noch Tennis und träumten von einer Hochzeit zwischen Becker und Steffi Braun.“ Sie hingegen habe heimlich Fußballfernsehabende organisiert und sei „bereits damals für Frankreich“ gewesen.
Selbstverständlich gibt es auch die Ewiggestrigen, die nach wie vor sonntags Tennis spielen. „Becker hat ja nicht mit Tennis angefangen, das gab es in anderen Ländern vorher schon. Und es war ja nicht alles schlecht, was er gemacht hat“, verteidigt Manfredo K. die dunklen Jahre. „Er hat den Arbeitslosen Jobs als Balljungen verschafft.“ Und ich? Ich bin unbelastet. Bevor Beckers Siegeszug begann, hatte ich mich bereits ins Ausland abgesetzt. Aber was ist mit Björn B.?
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