Trinkend ertrinken

Christoph Marthaler macht am Schauspielhaus Zürich aus Shakespeares „Was ihr wollt“ ein Untergangsstück und lässt es in den Seventies stranden

von JÜRGEN BERGER

Mit der Liebe, der Musik und dem Tod ist das so eine Sache. Graf Orsino kann ein Lied davon singen. Gerade sprach er die hübschen Verse von der Musik, die der Liebe Nahrung sein soll und an der er sich so lange besaufen will, bis ihm selbst das zuwider ist, weil er, der Todunglückliche, die Gräfin Olivia ohnehin nicht bekommen kann. Gerade also hat er alles schön morbide arrangiert – da verliebt er sich in Viola, dieses androgyne Wesen, das mit ihrem Zwillingsbruder an die Küste Illyriens gespült und zur trunkenen Liebesbotin wird.

In „Was ihr wollt“ wird so viel gesoffen und gesungen wie in keinem anderen Shakespeare-Stück. Und wie im „Sturm“ beginnt alles mit einem Schiffbruch. Eigentlich ist damit schon alles versammelt, was Christoph Marthaler sich ansonsten herbeifantasieren muss: Die Gestrandeten dieser Welt ersäufen ihren Kummer in Alkohol und singen so traurig, dass sie wieder trinken müssen, um sich nicht gleich am nächsten Balken aufzuhängen. Es war also nahe liegend, dass Marthaler – der an der Berliner Volksbühne vor Jahren schon den „Sturm“ inszenierte – sich eines Tages Shakespeares Schwebestück über Geschlechterwirrnisse annehmen würde. Geht der eiserne Vorhang in Zürich hoch, sieht man zuerst einmal, dass Anna Viebrock eine Kopie des Zuschauerraums auf die Bühne gebaut hat, selbstredend dezent verfremdet. Das Schauspielhaus ist zum Luxusliner geworden; Schauspieler und Zuschauer sind Passagiere der „Titanic“ und wissen nicht so recht, ob sie bereits ersoffen sind, oder gerade ertrinken. André Jung sitzt schlaff im Zentrum des titanischen Ballsaals, während sein kleiner Hofstaat summt, ächzt und säuselt. Irgendwann hebt er müde die Hand, da er doch noch diese Geschichte von der Musik und der Liebe loswerden will.

Plötzlich aber hat der Luxusliner ersten Kontakt mit dem europäischen Festlandsockel, und Marthalers Alkoholpersonal segelt synchron durch den Raum. Ansonsten fallen die Stürze eher individuell aus: Josef Ostendorf etwa ist ein Sir Toby der Kugelklasse und kullert mehrmals mit Oliver Mallison durch den Raum. Der ist Sir Bleichenwang und müsste nach dem intimen Sturzkontakt mit dem äußerst fülligen Ostendorf eigentlich platt wie eine Flunder sein. In diesem Stück der seltsamen Paarungen geben die beiden das seltsamste Paar ab, das trotz aller Gegensätze merkwürdigerweise wie füreinander geschaffen ist: „Dampfwalze sucht Hering. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen.“

Marthaler lässt es auch dieses Mal bekannt langsam angehen. Und bis zum dritten Akt sieht alles danach aus, als bleibe es bei diesem Tempo. Judith Engel als Viola ist dabei ein in sich gestülptes Kind-Frau-Männchen, das die Liebe lernt und sie postwendend anderen beibringt. Graham F. Valentine spielt Shakespeares tiefgründigsten Narren, indem er seinen Countertenor schnalzen lässt, die Wortspiele in Oxford-English knarzt und seinen Schottenrock immer wieder auch um Olivia Grigolli (Maria) wickelt, auf dass beide zu einem singenden Doppelwesen werden. Irgendwann ist im somnambulen Liedreigen auch „Crimson und Clover“ an der Reihe. Das ist wunderschön. Doch dann hebt André Jung lässig die rechte Hand zum Peacezeichen, und, als sei das ein Startsignal, gerät der illyrische Saufuntergang allmählich aus den Fugen.

Das Publikum hier in Zürich habe ich in der Tasche, mag Marthaler sich gedacht haben, da kann ich ruhig noch entschiedener über die Stränge schlagen. Also macht er aus seiner Untergangscrew einen Flowerpowerhaufen der Seventies mit André Jung als Oberhippie. Kokspäckchen werden gezückt und immer wieder ein lässiges „Hey Man“ gemurmelt, während Groupie Olivia (Karin Pfammatter) ihr Kaugummi unter den Stuhl drückt und Viola anhimmelt.

Ab da geht alles nur noch schnell, als sei Marthaler unter Zeitdruck geraten oder als habe er sich endlich einmal als Actionregisseur versuchen wollen. Josef Ostendorf darf Bud Spencer sein, und alle dürfen sich ausgiebig prügeln. Marthaler hätte das sicher noch eine ganze Zeit durchhalten können, doch friert er sein Personal kurz vor der finalen Erkennungsszene ein. Der feuchte Untergang endet als todesstarres Tableau. Kein Happy End in Zürich. Der Arzt für Sir Toby wird nie kommen.