Am Frieden vorbeigebombt

Der Kosovokonflikt eskaliert erneut. Und wieder ist die internationale Gemeinschaft ratlos. Hoffentlich hat sie wenigstens gelernt, dass ein Krieg keine Lösung ist

Erst der Bombenkrieg 1999 hat den Hass zwischen Albanern und Serben ins Unversöhnliche gesteigert

Mindestens 10 Tote und über 40 Verletzte forderten die jüngsten Gewalttaten an den Grenzen des Kosovo. Zu Unrecht war die Krisenprovinz vorübergehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Denn zwischen Serben und Albanern herrscht alles andere als Frieden. Nur Träumer mochten hoffen, Milošević’ Abgang könnte die Lage entspannen. Gleich an mehreren Stellen zeigt die Gewaltkurve wieder nach oben.

In beklemmender Weise gleichen die Vorgänge den Anfängen des Bürgerkrieges im Kosovo vor drei Jahren. Die Widerstandsgruppen fordern die staatlichen Ordnungskräfte heraus und versuchen sie aus den umstrittenen Gebieten zu verdrängen. Das Nahziel sind befreite Zonen, das längerfristige Anliegen ist die politische Unabhängigkeit. Was bisher zu einem Bürgerkrieg noch fehlt, sind massive Gegenmaßnahmen des serbischen oder mazedonischen Militärs. Aber die Sprache hat sich bereits militarisiert. Die selbst ernannten Freiheitskämpfer heißen in Belgrad und Skopje Terroristen. Und auch größere Flüchtlingsbewegungen gehören zum Bild: Einige zehntausend Albaner haben ihre südserbischen Dörfer verlassen und sich im Kosovo in Sicherheit gebracht. Was heute noch schwelende Konfliktherde sind, könnte morgen wieder in Flammen stehen.

Beispiel eins: Mitrovica. Die Industriestadt im Norden des Kosovo ist in eine serbische und eine albanische Hälfte geteilt. Zwischen beiden verläuft der Fluss Ibar. An der Brücke versuchen schwer gepanzerte Kräfte der internationalen Friedenstruppe KFOR einen Rest an Freizügigkeit aufrechtzuerhalten, mit wechselndem Erfolg. Aufgebrachte Jugendliche mal vom einen, mal vom anderen Ufer attackieren sie regelmäßig mit Steinen, Knüppeln und Brandsätzen. Verletzte Soldaten und ausgebrannte KFOR-Fahrzeuge sind „normal“. Die Stadt hat sich ähnlich entwickelt, wie es auch von weiten Teilen Bosniens bekannt ist: Die ursprünglich gemischte Besiedlung verwandelte sich während des Krieges in eine strikte Trennung der Bevölkerungsgruppen. Jede Seite beansprucht kategorisch das Recht auf ihre einstigen Wohngebiete, widersetzt sich aber ebenso hartnäckig der Rückkehr von Bürgern anderer Bevölkerungszugehörigkeit. Amerikanische und türkische Soldaten gelten den Serben, französische und russische Soldaten den Albanern als voreingenommen. Wollen die Kommandeure der KFOR eigene Verluste vermeiden, müssen sie dies bei der Zusammenstellung ihrer Einsatzkontingente berücksichtigen.

Beispiel zwei: Das Presevotal. Die wichtigen Straßen- und Eisenbahnverbindungen zwischen Belgrad und Skopje führen durch dieses Gebiet, das mehrheitlich von Albanern bewohnt wird. Den westlichen Teil des Tales bildet ein fünf Kilometer breiter Geländestreifen entlang der Verwaltungsgrenze zum Kosovo. Dieser Gürtel ist entmilitarisiertes Territorium. Nur leicht bewaffnete Polizisten dürfen sich darin aufhalten. So will es das militärisch-technische Abkommen, das die Nato am Ende des Kosovokrieges den jugoslawischen Streitkräften auferlegte. In dem Kräftevakuum hat sich jedoch die albanische Widerstandsbewegung UCPMD eingenistet. Sie trägt dieselben Uniformen und Waffen wie die einstige UÇK und führt wie diese Anschläge und bewaffnete Überfälle auf serbische Einrichtungen durch. Sie will Südserbien oder, wie sie es nennt, Ostkosovo befreien und an die Provinz Kosovo anschließen. Seit November kontrolliert die Guerillaorganisation de facto die südliche Grenzzone. Die Zufahrten in das serbische Landesinnere hat sie vermint, ihren Nachschub erhält sie aus dem Kosovo. Immer drängender mahnt die neue Führung in Belgrad die UNO und die Nato, dieses Treiben auf serbischem Hoheitsgebiet zu beenden. Bisher sind die Appelle ungehört verhallt.

Beispiel drei: Mazedonien, das an die Krisenprovinz grenzt. Dort operiert seit neuestem ebenfalls eine paramilitärische Guerilla. Sie nennt sich Volksbefreiungsarmee und benutzt das eingeführte Kürzel UÇK. Wie ihren auch an westliche Medien versandten Kommunikees zu entnehmen ist, kämpft sie gegen die mazedonischen Unterdrücker des albanischen Volkes. Ihre bisher spektakulärste Aktion war Ende Januar ein Granatwerferangriff auf eine Polizeistation inmitten des albanischen Siedlungsgebietes in Westmazedonien. Ein Polizist kam ums Leben, drei weitere wurden verletzt.

Zu denken geben muss die Untätigkeit der Staatengemeinschaft angesichts dieser heraufziehenden Gefahren. Offenbar hat die internationale Politik kein Gespür für neue Probleme, solange sie nicht einmal die alten zu lösen vermag. Zwanzig Monate nach dem Luftkrieg gegen Jugoslawien ist die Frage unbeantwortet, was aus dem eigentlichen Streitanlass, der Kosovoprovinz, werden soll. Die KFOR verhindert Kampfhandlungen, mehr kann sie nicht leisten. Eine politische Befriedung steht weiter aus. Welche Möglicheiten kommen in Betracht?

Laut Mandat der Vereinten Nationen vom Juni 1999 wird immer noch die politische Autonomie der Provinz in einem jugoslawischen Staat angestrebt. Nicht zufällig hat die internationale Vermittlungsdiplomatie diese Option lange bevorzugt. Es war die sachlich angemessenste Lösung, die zugleich als einzige die Chance bot, den Streit durch Verständigung beizulegen. Doch sobald die militärische Intervention im März 1999 beschlossen wurde, war diese Lösung bereits gescheitert. Die nachfolgenden Gewalttaten der Serben lassen es der albanischen Bevölkerung unzumutbar erscheinen, sich wieder unter Belgrader Herrschaft zu begeben. Außerdem hat die anschließende Vertreibung der Mehrzahl der Serben die Bevölkerungszusammensetzung und die Machtverteilung nochmals verschoben. Wohl könnte die Staatengemeinschaft die ethnografische Vorkriegssituation wieder herstellen und die Rückkehr der geflohenen Nichtalbaner erzwingen. Um sie zu schützen, müsste sie jedoch ein Vielfaches der Kräfte aufbieten, die sie gegenwärtig im Kosovo bereithält.

Die Alternative wäre die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo. Zu keinem Zeitpunkt ist die UÇK oder die gemäßigte LDK, die Partei Rugovas, von der vollständigen Abtrennung der Provinz von Jugoslawien abgerückt. Und die Zeit spielt zu ihren Gunsten. Jeder Schritt zu einem neuen Rechts-, Wirtschafts- und Währungssystem löst das Kosovo weiter aus dem jugoslawischen Staatsverband heraus. Nur die völkerrechtliche Anerkennung steht noch aus. Zu Recht scheut der Westen bislang davor zurück. Die Folgen wären unabsehbar. Der Präzedenzfall einer gewaltsam erkämpften Sezession müsste andere separatistische Bewegungen ermutigen. Zudem gilt als sicher, dass Russland die Unabhängigkeit des Kosovo ablehnen würde.

Da keine der genannten Alternativen die Zustimmung beider beteiligten Konfliktparteien finden dürfte, bliebe als letzter Ausweg die territoriale Teilung des Kosovo. Dies steht offiziell nicht zur Diskussion. Wer diese Lösung unterstützen würde, ist folglich offen. Die inzwischen geschaffenen Fakten würden den serbischen Teil der Provinz auf den kleinen Landzipfel nördlich von Mitrovica begrenzen. Immerhin wüssten dann beide Bevölkerungsgruppen, wo und unter wessen Herrschaft sie leben könnten. Gegen den Vorschlag spricht, dass eine Gebietsteilung die Frage der noch bestehenden serbischen Enklaven im Zentralkosovo nicht löst – ein begleitendes Umsiedlungsprogramm würde unumgänglich.

Was bisher zu einem neuen Bürgerkrieg fehlt, sind massive Gegenmaßnahmen des serbischen Militärs

Die Übersicht zeigt: Es sind ausnahmslos unerfreuliche Perspektiven. Nur eine selbstgerechte Betrachtung erlaubt, dies allein den regionalen Konfliktfaktoren zuzuschreiben und die internationale Mitverantwortung zu übersehen. Es sind zwei verschiedene Fragen, was, erstens, die Feindschaft zwischen Serben und Albanern hervorgerufen und angefacht hat und wodurch diese Feindschaft, zweitens, so extrem gesteigert wurde, dass sie auf absehbare Zukunft jeden Kompromissfrieden zunichte macht. Ohne den Vertreibungsexzess vom April 1999, begangen an den Albanern, und ohne den Vertreibungsterror vom Juni 1999, begangen an den Serben, lässt sich die Intensität des Hasses nicht erklären.

Beide Vorgänge haben dem Kampf um das Kosovo eine neue, brutalere Gewaltdimension hinzugefügt. Und beide waren Begleit- bzw. Folgeereignisse des Bombenkrieges gegen Jugoslawien. Einmal mehr erwies sich Waffenmacht als ein zu grobschlächtiges Werkzeug der Konfliktbewältigung. Dem Kosovo und den Kosovaren hilft die Einsicht nicht mehr. Aber vielleicht bewahrt sie die Europäer davor, militärische Kraftmeierei noch mal mit politischer Verantwortung zu verwechseln. Denn die Herausforderungen um den Brandherd von gestern nehmen nicht ab, sondern zu.

REINHARD MUTZ