Gleiche unter Gleichen

In San Francisco trafen sich Experten, um über die Zukunft der „Peer-to-Peer“-Technik zu sprechen. Die direkte Kommunikation von Usern könnte das Internet neu definieren – und demokratisieren

von ERIK MÖLLER

Das Hotel war nobel. Doch die Ideen, die unter Kronleuchtern und Blattgold diskutiert wurden, waren zutiefst demokratisch, wenn nicht sogar anarchistisch.

„Peer-to-Peer“, von Gleich zu Gleich, darunter versteht der Onlinepublizist Tim O’Reilly, der die hochkarätige Konferenz vom 14. bis 16. Februar ausrichtete, nicht nur Netze wie die Musiktauschbörse Napster (50 Millionen registrierte Benutzer), in denen Nutzer untereinander Dateien tauschen. Auch Programme wie ICQ oder AIM (beide von AOL, 141 Millionen registrierte Benutzer), mit denen die Nutzer sehen können, wann ihre Freunde ebenfalls online sind, und ihnen direkte Nachrichten oder Dateien schicken können, sind nach O’Reillys Definition „Peer-to-Peer“. Und das Gleiche gilt für die Suche nach Signalen Außerirdischer unter der Nutzung verteilter Rechenpower, der sich das Berkeley-Projekt SETI@Home (setiathome.berkeley.edu) verschrieben hat (immerhin 2,7 Millionen Benutzer).

„Wir wollen interessante Konversationen mit nachdenklichen Menschen in Gang setzen“, so O'Reilly. Napster, so erklärte Clay Shirky in einer ersten Keynote, zeichne sich nicht etwa durch seine einfache Oberfläche aus. Wesentlicher sei, dass Napster auch Laien erlaube, einen eigenen Server zu betreiben, von dem andere Inhalte herunterladen können – zuvor eine Aufgabe für Experten, die mit komplexer Software umgehen können.

In den folgenden Tagen wurde ein breites Spektrum von Anwendungen diskutiert. Ray Ozzie, der Erfinder der Software „Lotus Notes“, die es Mitarbeitern von Firmen erlaubt, Nachrichten, Dokumente und Projektpläne gemeinsam zu bearbeiten, stellte sein neuestes Geisteskind vor: In Groove Networks (groove.net) können Nutzer geschlossene Gruppen bilden, die in verschlüsselter Form zusammenarbeiten. Wegen des Erfolgs seiner bisherigen Produkte konnte Ozzie seiner Firma viele Millionen an Venture-Capital sichern. Eine andere Firma, WorldStreet, will Finanzanalysten anbieten, sicher und gegebenenfalls anonym ihre Daten auszutauschen.

Auch der Journalismus wird sich schon wieder neu definieren müssen. Im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion standen die Gründer des Onlinemagazins Slashdot (slashdot.org), das sich dadurch auszeichnet, dass die Nutzer nicht nur die Storys kommentieren, sondern auch selbst einsenden können. Allerdings müssen Moderatoren die Kommentare der User bewerten, um das Niveau zu halten. „Es gibt immer Leute, die in den öffentlichen Pool pinkeln“, hat Slashdot-Gründer Rob Mal erkannt.

Bill Joy, Chefprogrammierer von Sun Microsystems und in der Freizeit Zivilisationspessimist, stellte die neueste Initiative seines Hauses vor, „Juxtapose“ („nebeneinander stellen“), kurz „JXTA“: Ein Standard, nach dem Rechner miteinander kommunizieren sollen, um beliebige neue Anwendungen realisieren zu können. „Wir möchten Peer-to-Peer-Projekte konsolidieren und so eine Plattform für Interoperabilität entwickeln“, sagt Joy und erklärt wortreich, wie Sun auf den unaussprechlichen Namen gekommen sei: Nach „Java“ und „Jini“ wollte man ein weiteres J-Wort haben, doch selbst ausführliche Scrabble-Analysen brachten wenig Brauchbares zutage, was noch nicht markenrechtlich geschützt war.

Die Kinder von Napster

Und dann gibt es da den riesigen Bereich des File-Sharing: Benutzer stellen ihre Inhalte auf ihrer Festplatte anderen zur Verfügung. So simpel die Methode ist, so heiß umstritten ist sie auch. Wegen mutmaßlichen Urheberrechtsverletzungen steht die Musiktauschbörse Napster unter großem juristischem Druck, das Urteil eines Berufungsgerichts von letzter Woche verbietet die Indexierung geschützter Musik. Sichtlich in die Enge getrieben, bietet Napster der Musikindustrie heute einen milliardenschweren Vergleich an.

Andere Systeme wie Gnutella versuchen zentrale Angriffspunkte zu vermeiden, und entsprechende Programme der nächsten Generation wie BearShare (www.bearshare.com) funktionieren schon recht gut. Auf der Konferenz wurde nun die Frage diskutiert, wie solche Netze größer und sicherer werden können. Auch will man sich auf einheitliche Standards einigen. Netze wie Gnutella könnten nicht nur für Musik, Bilder und Texte eingesetzt werden, wie Demonstrationen kleinerer Firmen zeigten. FirstPeer (www.firstpeer.com) entwickelt eine Software, die auf Gnutella-Basis mit Kleinanzeigen einen riesigen Flohmarkt erzeugt. Anders als bei zentralisierten Auktionen wie eBay ist Zensur in der Regel nicht mehr möglich.

Die total freie Marktwirtschaft wird denkbar. So verglich denn auch der sonnengebräunte Chef der Peer-to-Peer-Firma Consilient, die eine Software ähnlich Groove entwickelt, zentralisierte Systeme mit dem Stalinismus und dezentrale Netze mit der freien Marktwirtschaft.

Doch manch einer wittert eher Sozialismus und Flower-Power. Ein Journalist fühlte sich in die Sechziger zurückversetzt. „Ihr tut alle so, als ob Kapitalismus das personifizierte Böse sei!“, empörte er sich auf einer Pressekonferenz. O'Reilly konterte schnell: „Wir sind alle Kapitalisten.“ Bei diesem Satz zuckten selbst die Mundwinkel des in Amerika lebenden Iren Ian Clarke kaum merklich – Clarke entwickelt ein System der perfektionierten Informationsanarchie (freenetproject.org). Freenet soll die anonyme Speicherung und den Abruf beliebiger Informationen in einer Art riesiger virtueller Festplatte erlauben. Wie Gnutella kommt auch Freenet ohne zentrale Autorität aus, die man verklagen könnte. Doch die technischen Herausforderungen sind groß: Man muss verhindern, dass einzelne Nutzer überlastet werden, man muss die tatsächliche Verfügbarkeit der Dateien und zugleich die Anonymität garantieren – um nur einige Schwierigkeiten zu nennen.

Kampf gegen Hollywood

Doch damit ist das Spektrum der möglichen Anwendungen der Peer-to-Peer-Technik längst nicht erschöpft. Langfristig sollen diese Netze Daten nicht nur speichern, sondern auch katalogisieren und bewerten. Ihre Benutzer würden dann das Prestige von Experten auch unabhängig von ihrer sozialen Stellung erwerben. So könnten sich regionale Informationsdienste entwickeln, die von den tatsächlich Betroffenen betrieben werden. Dem steht nur die Tatsache im Wege, dass bislang nicht einmal ein Zehntel der Weltbevölkerung Zugang zum Internet hat.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die darüber entscheiden, ob sich das Internet weiterentwickelt oder zum bloßen Videotext verkommt, werden in den kommenden Jahren festgelegt. Der Napster-Prozess ist ein Präzedenzfall. So betonte dann auch der renommierte Harvard-Jurist Lawrence Lessig in seiner Keynote: „Wenn ihr jetzt nicht politisch aktiv werdet, wird euer Recht, diese Netze zu bauen, entfernt.“ Er wies darauf hin, dass Konflikte mit Eigentumsrechten wie bei Napster auch in anderen Peer-to-Peer-Netzen auftreten, ganz gleich ob dies ihre Bestimmung sei oder nicht. Ein Verbot der MP3-Tauschliste könnte deshalb alle anderen Systeme ebenso treffen. Und Lessig meint, der Kampf gegen die Medienindustrie um die öffentliche und politische Meinung sei schon fast verloren: „Die gewöhnliche Öffentlichkeit ist auf der Seite Hollywoods. Die glauben, dass sie und Hollywood sich gegen Hippies und Kommunisten schützen.“ – Womit sie vielleicht gar nicht so Unrecht haben. moeller@scireview.de