Selektion per Lochkarte

Aufarbeitung oder Entlastungsdiskurs? „IBM und der Holocaust“ – ein Buch des amerikanischen Autors Edwin Black

Von seiner Lochkartentechnik vermochte Erfinder Herman Hollerith die Deutschen 1896 nicht zu überzeugen. Zur Volkszählung setzten die Berliner Behörden lieber Menschen statt Maschinen ein. Den Nazis waren solche Skrupel fremd. Sie benutzten die Maschinen sogar, um über das Schicksal von Menschen zu entscheiden: Mit Hilfe der „D-11“ erfassten sie die Bevölkerung – und selektierten ihre Opfer. „Der Holocaust, den wir kennen, das ist der Holocaust der IBM-Technologie“, sagt US-Journalist Edwin Black. Anhand der Lochung der Hollerith-Karten, die Merkmalen wie Nationalität oder körperlichen Gebrechen entsprach, wurden KZ-Gefangene in kürzester Zeit maschinell klassifiziert. Das Echo auf Blacks Buch „IBM und der Holocaust“ ist enorm, seit es vor einer Woche in neun Sprachen zugleich erschien. Heute kommt Black nach Berlin, um seine Thesen erstmals in Deutschland vorzustellen.

Der US-Konzern, glaubt er, habe seine Technik den Wünschen des Regimes angepasst. Die Maschinen stellte IBM nur leihweise – und übernahm die Wartung selbst. „Es war ziemlich klar, dass IBM seine deutsche Tochter Dehomag bis ins Kleinste steuerte.“ Dass IBM-Maschinen den Nazis nutzten, ist indes nicht neu – wenn auch nie so detailliert beschrieben worden. Bereits 1984 haben Götz Aly und Karl Heinz Roth in „Die restlose Erfassung“ die Kooperation beschrieben. Das Kartensystem war „Teil der Industrialisierung des Massenmordes“, so die US-Historikerin Sybil Milton.

Doch zu den Vorwürfen hat der Konzern auch jetzt nicht Stellung bezogen. Der Einsatz der Hollerith-Technik sei „seit Jahrzehnten“ bekannt. Nun sollen Historiker die Firmengeschichte durchleuchten – das Buch hat die Chefetage wohl doch alarmiert.

Dabei ist die Arbeit nicht unumstritten. Ein 100-köpfiges Team, Archivare und Studenten, recherchierte. Drei Jahre, 20.000 Dokumente. Doch die New York Times bemängelte die verwirrende Faktenlage. Black habe keine Holocaust-Experten konsultiert, kritisierten Historiker in der Washington Post.

Effizienz sei keine Frage technischer Mittel, gab Raul Hilberg zu bedenken, Autor des Standardwerks „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Stift und Papier reichten aus – und die Nazis verfügten über andere Quellen wie Polizeiregister. Black behauptet nicht, dass es den Holocaust ohne IBM nicht gegeben hätte. Doch auch das Auschwitz-Museum widersprach ihm. Häftlingsberichte lieferten keinen Hinweis, so der historische Leiter Franciszek Piper, dass im KZ IBM-Maschinen standen.

Die Kritik an Black fand jedoch in der öffentlichen Debatte kaum Niederschlag – so wie die früheren Erkenntnisse über Fachzirkel nicht hinauskamen. Woher rührt diese Verkürzung?

Das Buch kommt zu einer Zeit in die Läden, da die Diskussion um die Zwangsarbeiter-Entschädigung in vollem Gange ist. Weil die Wirtschaft ihr Geld nicht zusammenbekommt, hängt die letzte Sammelklage weiter bei einem US-Bundesgericht. Die Entschädigungsregelung scheint erstmals ernsthaft in Gefahr.

In dieser Situation bezichtigt nun ein amerikanischer Autor einen US-Konzern der Mitverantwortung für den Holocaust. Schon warnt die Frankfurter Rundschau vor einem neuen „Entlastungsdiskurs“, denn nicht von ungefähr wird in den Rezensionen immer wieder auf Blacks jüdische Abstammung verwiesen. Das erinnert an die Debatte um die „Holocaust-Industrie“ von Norman G. Finkelstein, auch er ein jüdischer Autor.

Sicher wäre die Diskussion kontroverser, hieße der Autor Schwarz und nicht Black. Einem Vorwurf will sich hierzulande keiner aussetzen: die historische Verantwortung für den Holocaust zu kollektivieren.

NICOLE MASCHLER

Edwin Black: „IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis“. Propyläen-Verlag/München 2001, 704 S., 59,90 DM