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Eine deutsche Kindheit

■ Jürgen Bartsch war in den 70ern ein berüchtigter Kindermörder. In Oldenburg steht er im Mittelpunkt eines bedrückenden Theaterstücks

Wir sind Richter, Zeugen, Mitwissende, Beihelfer. „Bartsch, Kindermörder“, sitzt im Ring, die Zuschauer als voyeuristisches Tribunal an Flanken und Stirnseite eines länglichen Raumes gruppiert. Betroffen, schockiert, angeekelt, amüsiert angesichts der Lebensbeichte dieses Serientäters, der Schilderungen aus seiner verstümmelnden Kindheit, der grausigen Abschlachtungen, die er als Erwachsener an Kindern vornahm.

Irmgart Lübke inszenierte am Oldenburgischen Staatstheater das Stück von Oliver Reese, eine Zusammenstellung aus Briefen, die Jürgen Bartsch an den Journalisten Paul Moor geschrieben hatte, bevor er an einem Narkosefehler starb. Denn Bartsch ließ sich 1973 kastrieren, als er den Drang, Jungen zu töten, nicht hatte bezwingen können. Ein Junge in Knickerbockern rollt eine Murmel über den Bühnenboden. Er kauert dort, vor dem Ausgang. Vis à vis, Bartsch auf einem Holzstuhl. Dunkel. Laut krachend blenden grellweiße Scheinwerfer auf, polizeiliche Vernehmung, Verhör. Bartsch erzählt.

Wie er ein Jahr alt war und seine Mutter weglief, als er in einer Klinik war. Von seinen Adoptiveltern, ein Metzgerpaar. Von seiner Kindheit, eingesperrt in einer Kellerwohnung. Von der putzwütigen, paranoiden Stiefmutter, die ihn mit Messern bewirft, wenn er nicht sagt, was sie erwartet. Von Beschimpfungen, Erniedrigungen, Schlägen, von totaler Abhängigkeit: „Meine Mutter hat mich bis zum Schluss gebadet. Ich hätte nie gedacht, dass meine Eltern sterben könnten.“ Zwischendurch sackt er weg, die Augen richten sich nach innen, starr, dann taut das Gesicht auf, ein Lächeln erscheint. „Ich wollte immer Sänger werden“, und er gibt seine Lieblingsschlager zum besten. Irgendwas über ein Pony.

Dabei soll er zuhause später Kälber schlachten, als er aus dem Internat geflogen ist. Das Internat, wo kranke Kinder geprügelt werden, weil sie angeblich Fieber simulieren, wo Freundschaften zwischen den Jungs untersagt werden und ständig unterschwellig oder offen vor dem „Drang“ gewarnt wird, dem man nicht nachgeben dürfe. Und wo zugleich die Jungs aus der Krankenstation von Pater Pütz liebevoll betreut und sexuell benutzt werden. Erschöpft faltet Bartsch seine Hände, wischt sich über Stirn und Augen, dann zart, versonnen: „Mein größter Wunsch war ein Beruf mit Kindern“, so absurd, so monströs klingt das.

Andreas Unglaub zeichnet diesen Menschen in seiner Zartheit und Klarsicht sich selbst gegenüber, als intelligenten, empfindsamen, komischen, manchmal nervösen Borderliner. Vom Vater lernt er Schweineschlachten. Von da ist es nicht mehr weit zu der detaillierten Darstellung der Kindstötungen: Bartsch hat seine Opfer ausgeweidet, oder Stücke Fleisch herausgeschnitten, um daran zu riechen, sie bei sich zu haben. Das Licht erlischt. Im Dunkel geht er umher, erzählt von seinen Morden an Klaus, Jürgen und Matthias, der vor dem Tod noch mal die Augen öffnete und ihn verzeihend anblickte. Mal kommt die Stimme näher und wir sind mit ihm in der Höhle wo er all das inszenierte, sind bedroht, sind mögliche Opfer, sind – Täter?

Die Inszenierung macht sichtbar: Jürgen Bartsch, Produkt permanenter Erniedrigung, gesellschaftlicher Verdrängung von Sexualität, Homophobie, aufgestautem Selbsthass wie er sich unter Hitler entladen hat. Deutschland, ein Schlachthaus, deutsche Kindheit, ein Alptraum, im kalten Würgegriff des andauernden Faschismus, Bartsch, ein später KZ-Mörder, ohne staatlichen Auftrag, durch kein Kollektiv gedeckt. „Todesstrafe!“, fordert er für sich – und danach schreien ja gerade die, denen seine Taten Spiegel sind. Verdrängt wird weiter, gezüchtigt und geschlachtet und geputzt.

Marijke Gerwin

Weitere Aufführungen: 21./23. März. Karten: Tel.: 0441/22 25 111

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