zwischen den rillen
: Nach uns die Soundflut: Tortoise mit Postpostrock

Der Standard der Dinge

Seit Ende 1994 das selbst betitelte Debüt von Tortoise erschien, wurde noch jede Platte der Band zum Anlass genommen, eine Inventur der aktuellen popmusikalischen Landschaft vorzunehmen. Anhand der ersten Platte wurde versucht, den gerade aufkommenden – und von Tortoise entscheidend geprägten – Begriff des Postrock zu exemplifizieren. „Millions Now Living Never Die“ wurde Mitte der Neunziger als Ausdruck der zunehmenden Verschmelzung von Rock und Elektronik wahrgenommen. Und das letzte Werk „TNT“ stand in seiner Richtungslosigkeit paradigmatisch für die stark vorangeschrittene Auflösung von Trennlinien zwischen den unterschiedlichsten Subströmungen innerhalb einer immer ausdifferenzierter gewordenen Popmusik.

„Standards“ ist nunmehr die vierte Platte von Tortoise. Rückblickend wirkt die Bemessung der Band als wegweisend durch den Sounddschungel der Neunziger allerdings leicht übertrieben. Je stärker durch den Paradigmenwechsel hin zu Elektronik und Sample-Kultur Eklektizismus und das Prinzip eines „anything goes“ zum universalen Arbeitsprinzip wurden, desto weniger konnten Tortoise-Platten bahnbrechend sein, chronisch dokumentieren sie den Bedeutungsverlust der Band. So bleibt das etwas ungute Gefühl, dass die wahre Leistung von Tortoise über die Jahre hinweg weniger im musikalisch innovativen Bereich lag, sondern darin, Indikator zu sein für den Stand der Dinge innerhalb der Popmusik.

Eine richtungsweisende Platte kann auch „Standards“ nicht mehr sein. Nicht nur weil keine Innovationen mehr feststellbar sind, sondern weil der Band inzwischen auch die Möglichkeit abhanden gekommen ist, entweder Nukleus einer aktuellen Soundströmung zu sein oder als Genre-Filter zu funktionieren. Was zugegebenermaßen weniger an Tortoise selbst liegt als an der derzeitigen Strömungslosigkeit in der Popmusik überhaupt.

Standards nennt man vor allem im Jazz jene Klassiker, die man nochmals mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten nachdudelt. Die Idee dahinter ist eine postmoderne: Alles ist schon mal gesagt worden, und es bleiben uns nur noch die Variationen des bereits Gesagten. Im programmatischen Sinne ihres Plattentitels kommentieren Tortoise dann auch eher ihre bisherigen Platten und fassen nochmals alles zusammen. Der Blick geht zurück und nicht nach vorne. Da taugt die Bewertung des Wechselns der Plattenfirma – in Europa von City Slang zu Warp – noch am ehesten zur Feststellung einer Aussage hinter „Standards“: Die Abkehr von einem traditionellen Rocklabel hin zu einem traditionellen Elektroniklabel bedeutet nichts mehr, weil die Rock-Welt inzwischen viel zu sehr mit der Elektronik-Welt verschmolzen ist.

„Standards“ ist dennoch ganz bestimmt keine schlechte Platte. Nur hat die Welt nicht mehr unbedingt auf sie gewartet. Wieder werden Jazz, Elektronik und Rock aneinander gerieben und irgendwo zwischen Improvisation und Komposition in offene Songstrukturen gepresst. Es bleibt Postrock, nur nennt das heute niemand mehr so. Es bleibt typische Musik aus Chicago, wo die Verkantung von sperrigem Rock und Jazz eine lange Tradition hat. Nur würde das heute niemand mehr Chicago-Sound nennen, weil man im laufenden Popdiskurs längst eingesehen hat, dass derartige Kategorisierungen immer weniger bringen. Auch die Zeiten, in denen man auf Produktionen von Tortoise-Schlagzeuger John McEntire gewartet und Tortoise-Ableger wie Pullmann oder Isotope 217 beklatscht hat, sind erst mal vorbei. Heute ist nicht gestern. Innerhalb eines Tortoise-Koordinatensystems betrachtet, kommt man letztlich zwar zu dem Schluss: gut gemacht. Doch schweift der Blick darüber hinaus, bleibt eher Indignation. Heute klingen die Sugarbabes radikaler und geht Madonna mit ihrer Multifusions-Platte „Music“ einfach weiter als Tortoise. Die Neunziger sind eben endgültig vorbei. ANDREAS HARTMANN

Tortoise: „Standards“ (Warp/ Zomba)