Die schöne neue Rezeptionslosigkeit

Vielen Dank, Herr Stromberg: Am Hamburger Schauspielhaus treiben zehn Regisseure durch Schnitzlers „Reigen“

Ich hätte doch einen Tag zuvor in die öffentliche Probe gehen sollen, denn jetzt wurde gerade Premierengast Augstein von zwei schönen jungen Frauen mehr reingetragen als -geführt. Auch hatte ich von Willy Theobald die Visitenkarte bekommen, denn wer für die taz schreibt, kann das auch für die Financial Times Deutschland tun. Es sind ja nur Worte. Und kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Irgendwie gehört das Premierenparkett, 80-Jährige im Schnitt, mich inbegriffen, dazu, und alle klatschten wohlwollend zum Sich-gar-nicht-darum-kümmern, was man wann, wie, wo mal gesagt hat.

Schnitzler hat seine zehn Dialoge des „Reigens“ vor hundert Jahren geschrieben. Damals ging es um das, was vor und was nach dem Fick, wie wir heute klar sagen können, unklar alles gesagt wird. Ein Satz dementiert den anderen. Wir kommen ganz schön in die Schwebe. Die zehn Dialoge sind nur dazu da, gar nicht gehört oder schnell wieder vergessen zu werden, weil es hinter der Wortmaske um Größeres geht. Gefühle etwa, echte und falsche und ambivalente und labile.

Im Hamburger Schauspielhaus ging es darum, was man alles hinter dem Schnitzler-Talk und Smalltalk entdecken kann. Entweder macht sich der Zuschauer sein eigenes Bild; das gäbe, rechne ich richtig, so an die tausend Stück. Oder die Bühne nimmt ihm die Arbeit ab; den Schauspielhaus-„Reigen“ inszenieren mindestens zehn Regisseure. Und die schwätzen und dementieren und kümmern sich nicht, dass es ein wahre Freude ist. Ja, es ist so, die Inszenierungsvielheit des Schauspielhauses hat keinen Charakter und keinen Stil, und das ist genau das, was die zehn Schnitzler-Dialoge brauchen. Danke, Stromberg, danke. Der Intendant verordnet keine Rezeption. Es steht jedem frei, das passende Event auszusuchen.

Regisseurin Ute Rauwald hat in ihrem Dialogpart das zum Zentrum gemacht, was Schnitzler ausgespart hat. Das neue Logo von Strombergs Bühne suggeriert, dass immerhin das Kondom benutzt wird, das zwischen „Deutsches“ und „Schauspielhaus“ einlädt: DEUTSCHES 0 SCHAUSPIELHAUS IN HAMBURG. Ihre beiden Schauspieler ziehen sich nackt aus und kopulieren, lustlos trotz allem. Mehr Spaß macht es, am Anfang in Puchers Part, Bjarne Mädel zu hören, den Soldaten. Die Regie setzt hier noch vordergründig aufs Wort. Der eiserne Vorhang ist unten, wie soll da Stimmung aufkommen; das alles ist anscheinend nur dazu da, dementiert zu werden; am überzeugendsten vom süßen Mädel (Maja Schöne) und vom Dichter (Hans Löw) in Jan Bosses Regiezehntel.

Endlich kommen die Schnitzlerdialoge voll ins Rutschen und Schwimmen; jeder, der einmal eine Gleitsichtbrille aufgesetzt hat, weiß, wovon ich schreibe. Der Dichter produziert sichtbar Poesie. Er setzt die Theaterapparatur in Gang, rennt mit einem Scheinwerfer rum, knipst den großen Ventilator an und setzt die Süße auf die Riesenaffenhand. Tarzan, wo bleibst du?

Endlich einer auf der Bühne, der die Maschinerie bedient. Das ist konkret. Die Technik wird zur Hauptsache. Wir glauben ihr und nicht dem Verbalen oder anderen Versprechungen, wie der Bühnenpoesie, wo das Licht aus dem Nirgendwo kommt und die Musik auch. Also, Jan Bosse, es lebe die Handhabung. Und nun muss gesagt werden, dass die Bühne (Klaus Grünberg) ein klasse Erlebnispark ist, tolle Fahrgeräte, eine voll funktionierende Achterbahn, lautlos, schön. Bloß davon Gebrauch machen – das trauen sich denn doch nicht alle Inszenatoren. Also fährt ab und an, einfach so, eine Bahn über Kopf vorbei, ein hübscher Geisterzug und ein Vorspiel zu etwas, was auf der Bühne nicht kommt.

Ja, dass nur wenig eingelöst wird, was das grandiose Bild verspricht, eben das verhindert erfolgreich, dass diese Aufführung doch noch so etwas fatal Eindeutiges wie Stil & Charakter bekäme. Und das darf dann wohl doch nicht wahr sein: Im nächsten Moment steht Ilse Ritter vor dem roten Samtvorhang, solo, und lächelt eine Minute zu lang ins Publikum, begnadete Boulevardschauspielerin. Dann der Stilbruch. Wie ein kleines Mädchen hockt sie im Scooter und sieht sich im Autokino das Melodram von Jörn Staeger an. Eine riesige Leinwand deckt die Bühne ab, und – darf man das sagen? – die Filmbilder sind auf magische Weise die dichteste Atmosphäre des Bühnenspektakels.

Wir müssen abmoderieren: Wenn Arthur Schnitzler vor einem Jahrhundert ebenso respektlos wie frivol seinen „Reigen“ durch Klassen und Schichten trieb, treiben es in Strombergs neuem Haus Regisseure, Gruppen und Kameraleute durch Medien und Stile. Ob’s funktioniert, sagt nicht die Werkanalyse, sondern, wie stets, das geneigte Publikum. Dass es Koproduzent des Aufführungsereignisses ist, würden ihm allerdings nur Spaßverderber sagen.

DIETRICH KUHLBRODT