Gepampert und rundum versorgt

Zum absoluten Wohlfühlprogramm in japanischen Traditionshotels gehört die Okamisan, eine Art Hotel-Mama, die rührend und rührig für das seelische und leibliche Wohl der Gäste sorgt. Beispielsweise in Kusatsu, dem Ort mit den heißen Quellen

von ESTHER SCHERER

Eine zierliche, kleine Frau, umringt von Männern in grauer Arbeitsuniform. Die Männer haben ihre Köpfe vor der Frau leicht gesenkt und nicken dabei hektisch. Sie nehmen ihre Anweisungen entgegen. Immer wieder hört man von dem ein oder anderen ein ersticktes „Hai, hai“, was so viel bedeutet wie: „Ja, ich habe verstanden.“ „Sie sind wie Kinder“, sagt die Japanerin, die einen eleganten Kimono trägt. „Und ich bin quasi ihre Mutter, die ihnen etwas zu ihrer Beschäftigung gibt.“

Die Frau ist Kaoru Ichikawa, die Okamisan des Traditionshotels Ichii in Kusatsu – einer kleinen Stadt in den Bergen, 180 Kilometer nordwestlich von Tokio. „Okamisan“ direkt übersetzt heißt „weiblicher Chef“ oder „weiblicher Häuptling“. Aber ins Deutsche kann man dieses Wort kaum übertragen. Denn eine Okamisan ist eine ureigentümlich japanische Erscheinung.

Sie ist weder Dame des Hauses noch Hotelmanagerin noch Wirtin. Vielmehr ist sie das Markenzeichen eines Ryokan, eines japanischen Traditionshotels. An ihr liegt es oft, ob Gäste wiederkommen wollen oder nicht. „Ein Traditionshotel ohne Okamisan ist wie eine Familie ohne Mutter“, beschreibt Ichikawa selbst ihren Beruf. „Sie gibt dem Hotel etwas Heimeliges, Warmes. Etwas Persönliches, sowohl für die Gäste als auch für die Angestellten.“

Das tut Ichikawa in der Tat. Sie ist bestimmt, aber immer freundlich, immer zuvorkommend und sehr vornehm in ihrer Sprache und in ihrer Art. „Ich halte es für eine der wichtigsten Eigenschaften einer Okamisan, so gut wie nur möglich zu erkennen, was der Gast wünscht“, erklärt sie. Deswegen ist sich Ichikawa für nichts zu schade. Sie stellt sich an die Rezeption, wenn gerade niemand frei ist. Sie kümmert sich um einen verletzten Gast. Sie bespricht mit dem Koch die Essenspläne. Sie dekoriert Flure und Zimmer nach den Regeln des Ikebana, der japanischen Blumensteckkunst. Sie überprüft die Zimmer auf ihre Sauberkeit. Sie hat den Überblick. Was angesichts dessen, dass das Hotel bis zu 400 Gäste beherbergt, eine erstaunliche Leistung ist.

Dass Kaoru Ichikawa eine Okamisan werden würde, war von dem Moment an klar, als sie ihren Mann heiratete. Denn ihm gehört das Hotel. Okamisan wird man nicht, weil man sich das wünscht, sondern es wird einem sozusagen vererbt. Die Ausbildung bekam Ichikawa dann von ihrer Schwiegermutter, alles andere hat sie sich in Laufe der Zeit selbst angeeignet. Es gibt keine Regeln, wie man sich als Okamisan verhalten sollte. Vieles hängt von der eigenen Intuition ab. Zum Beispiel muss eine Okamisan nicht immer einen Kimono tragen, aber Kaoru Ichikawa trägt jeden Tag einen. Sie sagt: „Der Kimono motiviert mich zu meiner Arbeit. Der Obi, der Gürtel, zwingt mich dazu, meinen Rücken gerade zu halten. So kann ich nie wirklich durchhängen.“ Durchhänger kann sich Ichikawa auch nicht leisten. Denn Urlaub hat sie nie, und sie will auch keinen. Dafür hat sie nicht die Ruhe, erklärt sie.

Der Arbeitsturnus von Ichikawa beginnt mit der Begrüßung der neuen Gäste. Gegen 16 Uhr kommen die japanischen Touristen im Ryokan an. Die Okamisan und ihre Assistentinnen – alle im Kimono – stehen am Eigang und begrüßen sie mit einer Verbeugung. Dann nehmen die Frauen das Gepäck und begleiten die Gäste zu ihrem Zimmer. Bei ganz speziellen Besuchern übernimmt Ichikawa die Begleitung selbst. Sie führt den Gast in seine Räume, die mit Tatami, japanischen Strohmatten, ausgelegt sind. Am Eingang zieht man sich die Schuhe aus und gelangt in Räume, die durch Papierschiebetüren voneinander getrennt sind. In keinem Raum steht ein Bett. Später, wenn Schlafenszeit ist, holen die Assistentinnen der Okamisan die Futons aus den Schränken und legen sie auf den Tatami aus.

Wenn der Gast sich gesetzt hat, macht die Okamisan grünen Tee und erklärt, wo im Hotel der Onsen ist, das heiße Bad. Im Zimmer gibt es zwar eine Badewanne, aber in der Regel geht man in ein Ryokan vor allem wegen der Onsen. Die Onsen werden von Männern und Frauen getrennt besucht. In einem Vorzimmer entkleidet man sich und geht dann in eine Halle, in deren Mitte sich ein großes Becken mit etwa 41 Grad heißem Wasser befindet. Rings um das Becken gibt es Duschen und Wasserhähne. Dort wäscht man seinen Körper, bevor man sich im Bad entspannt. Es hat fast den gleichen Effekt wie eine Sauna. Nach dem Onsen schwitzt man aus allen Poren und fühlt sich wie neu geboren.

Die Stadt Kusatsu ist besonders beliebt wegen ihrer heißen Quellen, die die Onsen mit Wasser versorgen. Die ganze Stadt dampft und riecht nach den schwefelhaltigen Quellen. Früher, als die Medizin noch nicht so fortgeschritten war wie heute, kamen Menschen mit Haut- und anderen Krankheiten von weit her nach Kusatsu, weil man dem Quellwasser heilende Wirkung nachsagte.

Heute kommen die meisten, um sich hier von ihrem Alltagsstress zu erholen. Im Winter, um Ski fahren, im Sommer, um der schwülen Hitze der Metropolen zu entfliehen. Allerdings nur für eine Übernachtung, wie es in Japan so üblich ist.

Auch Kaoru Ichikawa, die Okamisan, geht jeden Tag um Mitternacht in den Onsen ihres Traditionshotels – dann, wenn für sie endlich Feierabend ist. Ihre Gäste baden gewöhnlich vor dem Abendessen. Danach servieren die Assistentinnen das Abendessen. Besondere Gästen bedient Ichikawa zumindest teilweise selbst.

In der Regel nimmt man im Ryokan das Abendessen und das Frühstück auf seinem Zimmer zu sich. Man kniet vor niedrigen Tischen und wartet, bis eine Köstlichkeit nach der anderen gebracht wird. Auf die Vorspeise, meist Variationen von Meeresfrüchten, folgt Sashimi, roher Fisch. Dann Fleisch und Gemüse, gefolgt von Reis. Am Ende gibt es noch eine kleine Nachspeise, meist ein Sorbet. Immer wieder hört man dabei die Stimme der Assistentin oder der Okamisan am Eingang: „Shitsurei shimasu“ – „Verzeihung, ich trete jetzt in das Zimmer.“ Dann betritt sie die Tatamimatten, kniet sich vor den Tisch, füllt die vielen Schüsselchen mit Essen und verteilt sie, ohne jemals aus der Hocke zu gehen. Ab und zu setzt sie sich zu den Gästen, unterhält sich mit ihnen und schenkt ihnen aufmerksam Sake, japanischen Reiswein, nach. Und auch ihr wird Sake eingegossen. „Als Okamisan muss man ziemllich alkoholfest sein“, gibt sie zu.

Zwischendurch hastet sie zu den größeren Speisesälen mit den Reisegruppen. Auch hier sitzen alle am Boden und essen. Vorne im Raum steht ein Mikrofon. Ichikawa tritt mit ihren Assistentinnen ein. Alle drei knien sich vor der Gruppe hin. Die Okamisan nimmt das Mikrofon von dem Gruppenleiter entgegen und begrüsst die Touristen. „Danke, dass sie heute Gäste unseres Hotels sind. Wir hoffen, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt. Heute haben wir in Kusatsu minus acht Grad. Es ist sehr kalt, passen Sie auf sich auf“, sagt sie mit ihrer ruhigen, freundlichen Stimme. Die Hotelgäste klatschen.

Am schlimmsten war es für Ichikawa früher, dass sie für alle Fehler, die im Ryokan passierten, geradestehen musste. Wenn etwas nicht stimmt, wird die Okamisan gerufen. Dann muss sie sich persönlich beim Gast entschuldigen. „Eine Zeit lang wurde ich richtig menschenscheu. Ich wollte keinem mehr vor die Augen treten“, erinnert sie sich.

Am nächsten Morgen ab acht Uhr werden die Touristen verabschiedet. Im neuen Kimono steht Ichikawa da und hilft den Gästen beim Beladen ihrer Autos. Sie verbeugt sich wieder, wünscht ihnen eine gute Reise und geht mit ihnen nach draußen. Während die Gäste das Fahrzeug besteigen, steht sie dabei und wartet. Dann winkt sie ihnen zum Abschied nach, bis das Fahrzeug nicht mehr zu sehen ist.

Nun ist es Zeit, sich dem Personal zu widmen. Jeden Tag, wenn das Hotel wieder fast leer ist, treffen sich die Angestellten mit der Okamisan und besprechen den Verlauf des vorangegangenen Tags. Ichikawa verteilt Kritik und Lob. Ihre Worte sind streng, aber sie tun nicht weh. Es ist eher so, wie wenn eine Mutter freundlich zu ihren Kindern spricht.

Kaoru Ichikawa selbst hat drei erwachsene Kinder. Die älteste Tochter soll ihr nachfolgen. Die allerdings findet keinen Mann, der sie heiraten möchte. Ichikawa sieht den Grund dafür in der künftigen Aufgabe ihrer Tochter. „Keiner von den jungen Leuten möchte sein Leben so sehr einschränken, wie wir es tun. „Unsere Träume waren damals klein. Ihre sind größer“, sagt die Okamisan. Und verbeugt sich vor einem Gast, der gerade aus der Tür tritt.

Hotel Ichii (im Artikel vorgestellt), in der Ortsmitte gelegen; Tel. +81-279-88-0011, Fax +81-279-88-00111, Preis: zwischen 180 und 780 DM Hotel Baelz, bei jungen Leuten beliebt; Tel. +81-279-88-2711, Fax +81-279-88-3288, Preis: zwischen 180 und 350 DMOtaki no yu: eines der berühmtesten Badehäuser der Stadt Kusatsu;Onsens drinnen und draußen; Massage; mehrere Saunen und Restaurants.Michi no Eki: Quasi Stadttor von Kusatsu, gleichzeitig Touristeninformationszentrum; geöffnet von 8 bis 19 Uhr, Tel. +81-279-88-0800