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Tausend Schallplatten

Über Sex kann man (nicht) nur auf Japanisch wirklich schreiben: Über Haruki Murakamis Roman „Gefährliche Geliebte“ und seine Übersetzung zerbrach letztes Jahr das Literarische Quartett. Jetzt erscheint sein Bestseller „Naokos Lächeln“ auf Deutsch

von KOLJA MENSING

Unter dem Motto „Jeder Mensch ist eine Welt für sich“ lud vor einiger Zeit das Bistum Magdeburg zu einem Seminar für „Singles zwischen 25 und 40 Jahren“. Das Motto war doppeldeutig gemeint. Die unangenehme Erkenntnis, dass man mit sich selbst allein ist, sollte bei diesem Seminar offenbar durch die heilsame Einsicht ersetzt werden, dass man aus sich selbst wie aus einem vollen Brunnen schöpfen kann. Ein Wochenende lang können die Teilnehmer „über sich nachdenken, aber auch die Erfahrungen anderer hören und deren Sicht der Dinge kennen lernen“ – und so unter anderem „die Melodie ihres Lebens“ entdecken. Ein zweifelhaftes Angebot. Wer die Melodie seines Lebens entdeckt hat, ist nicht unbedingt ein glücklicher Mensch.

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Toru Watanabe, 37, gehört zu den Menschen, die die Melodie ihres Lebens gefunden haben. Er sitzt in einer Boeing 747, die gerade auf dem Hamburger Flughafen gelandet ist. Aus den Kabinenlautsprechern ertönt die übliche leise Hintergrundmusik. Es ist eine Instrumentalversion von „Norwegian Wood“.

Toru erschauert, wie jedes Mal, wenn er das Stück in den letzten achtzehn Jahren gehört hat: „Ich mußte mich nach vorn beugen und meinen Kopf mit beiden Händen umfassen, damit er mir nicht zersprang; so blieb ich sitzen. Eine deutsche Stewardeß kam heran und fragte auf Englisch, ob mir nicht gut sei. Alles in Ordnung, antwortete ich, mir sei nur ein bißchen schwindlig.“ Während er darauf wartet, aus dem Flugzeug aussteigen zu können, trägt ihn die Melodie von „Norwegian Wood“ zurück an jenen Nachmittag im Herbst des Jahres 1969, als Toru Watanabe ein Mädchen namens Naoko auf einem Spaziergang in den Bergen bei Kioto das letzte Mal gesehen hat.

Haruki Murakamis Roman „Naokos Lächeln“ reduziert gleich zu Beginn ein ganzes Leben auf eine Melodie und ein paar Zeilen von John Lennon und Paul McCartney. „This bird has flown“, heißt es am Ende von „Norwegian Wood“, und „Naokos Lächeln“ – das hat man auf den ersten drei oder vier der insgesamt mehr als vierhundert Seiten des Romans bereits verstanden – erzählt nichts anderes als die Geschichte einer Liebe, die irgendwann davongeflogen ist: Sie hat sich verflüchtigt wie der Windstoß, der an jenem Nachmittag im Herbst des Jahres 1969 über eine Wiese strich und Naokos Haar zerzauste.

So hat ein jeder Ort seinen Moment und seine Erinnnerungen, und Haruki Murakami legt Toru Watanabe den Text eines anderen Beatles-Liedes in den Mund. Er erinnert sich an die „verlorene Zeit“ und an „Menschen, die gestorben waren oder mich verlassen hatten“: „. . . with lovers and friends I still can recall / some are dead and some are living . . .“

Auch „Gefährliche Geliebte“, seinen letzten auf Deutsch erschienen Roman, hatte Haruki Murakami entlang von einigen alten Songs erzählt, Jazzstandards in diesem Fall. Es waren genau wie die Beatles-Songs jetzt in „Naokos Lächeln“ Lebensmelodien, die in die Vergangenheit führen, ohne sie wirklich zurückzubringen. Das Thema dieser Romane ist die Erkenntnis, dass die vergangenen Zeiten sich langsam, aber unausweichlich von uns entfernen – und das, obwohl gerade die Popkultur mit ihrer starken Bindung an Speichermedien wie die Schallplatte oder die CD seit fünfzig Jahren das Gegenteil zu beweisen versucht. Schließlich macht sie aus den alten Zeiten jederzeit wieder abrufbare und im Idealfall noch nicht einmal verknisterte oder verrauschte Oldies.

Haruki Murakami gehört zu der ersten Generation, die in Japan wie in der westlichen Welt inmitten der Popkultur und ihren Widersprüchen aufgewachsen ist. Er ist 1949 geboren, ein Jahr nachdem sich die Langspielplatte aus Vinyl endgültig durchgesetzt hatte. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er mit importierten amerikanischen Jazzplatten und „detective novels“ – in einem Land, das sich vom Zweiten Weltkrieg erholte und in wirtschaftlichem Erfolg und der Adaption westlicher Wertmuster nach einem neuen Selbstbewusstsein suchte.

In der „Gefährlichen Geliebten“ schrieb er unter anderem über das Schicksal seiner Altersgenossen, die einen anderen Weg der Erneuerung der Gesellschaft suchten als ihre Eltern und erst spät merkten, dass sie damit scheitern mussten: „Unsere Generation war die erste gewesen, die der spätkapitalistischen Logik, der sämtliche nach dem Krieg noch verbliebenen Ideale zum Opfer gefallen waren, ein schallendes ,Nein!‘ entgegengebrüllt hatte . . . Und hier war ich nun, mittlerweile selbst von dieser kapitalistischen Logik verneinnahmt und rekelte mich auf den Polstern meines BMW.“

Auch Toru Watanabe in „Naokos Lächeln“ besucht am Ende der Sechzigerjahre eine Universität. Aus den ideologischen Gefechten und handfesten Barrikadenkämpfen seiner Kommilitonen hält er sich heraus. Er fügt sich in die Eigenschaftslosigkeit wie in ein Schicksal, das seiner Generation mit auf den Weg gegeben worden ist, und lebt als Achtzehn- und Neunzehnjähriger bereits wie ein vom Leben enttäuschter „nowhere man“ mit ein paar Schallplatten und einigen Büchern in einem kargen Zimmer in einem Studentenwohnheim: „Die anderen hielten mich für einen künftigen Schriftsteller, weil ich immer für mich blieb und las, aber ich hatte natürlich keineswegs solche Ambitionen. Ich hatte überhaupt keine Ambitionen.“

Menschen wie Toru Watanabe trifft man in allen Büchern von Haruki Murakami. Es sind Singles, die in ihren Apartments sitzen und sich alte Filme anschauen, die Miles Davis hören und Scotch dazu trinken. Das Schicksal hat Spuren in ihnen hinterlassen, so wie in Toru Watanabe, der mit Naoko die einzige wirkliche Liebe seines Lebens verloren hat. Aber diese Spuren sind wie Kratzer auf einer Schallplatte. Sie kehren regelmäßig wieder, und jedes Mal erschrickt man – auch wenn man sich bereits nicht mehr so genau erinnern kann, bei welcher Gelegenheit man die Nadel einmal zu unvorsichtig aufgesetzt hatte.

Der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe, der für seinen jüngeren Kollegen nicht besonders viel übrig hat, zählt Haruki Murakamis Romane zur „shimin shosetszu“, zur Literatur, die von durchschnittlichen Menschen handelt. Das ist durchaus abwertend gemeint, auch wenn Murakami selbst es vermutlich als Kompliment empfinden dürfte. Er steht in der Tradition der modernen amerikanischen Literatur und hat F. Scott Fitzgerald, Raymond Chandler und Raymond Carver ins Japanische übersetzt.

Nachdem er zunächst sogar versucht hat, auf Englisch zu schreiben, hat er Teile ihrer Erzählstrategien und ihres Stils übernommen. Es hat darum einen gewissen Hintersinn, wenn der junge Toru Watanabe, der so eigenschaftlos ist, dass er noch nicht mal zu einer eigenen Sprachmelodie gefunden hat, von anderen immer wieder darauf angesprochen wird, dass er sich manchmal wie Humphrey Bogart anhört oder wie Holden Caulfield in Salingers „Fänger im Roggen“.

Dieses Phänomen des „translation japanese“, in dem Murakami zumindest für den japanischen Leser erkennbar schreibt, hatte den Verlag DuMont dazu verleitet, seine Romane „Mr. Aufziehvogel“ und „Gefährliche Geliebte“ aus der englischen Übersetzung ins Deutsche übertragen zu lassen. Das war ein reichlich fahrlässiges Vorgehen, da die englische Übersetzung zumindest von „Gefährliche Geliebte“ anscheinend nicht sehr gelungen ist und ihre Fehler sorgfältig ins Deutsche übertragen wurden.

Der sanfte amerikanische Fluss, den Japaner in Murakamis Sätzen hören, klang deshalb sehr viel umgangssprachlicher als im Original. Nachdem Sigrid Löffler sich dann noch im Literarischen Quartett mit Marcel Reich-Ranicki so über die Sexszenen in der „Gefährlichen Geliebten“ zerstritt, dass sie anschließend aus der Sendung ausschied, entstand eine kleine Übersetzungsdebatte, in der einige hübsch explizite Stellen öffentlich gemacht wurden. Die Formulierung „Vögeln bis zur Hirnerweichung“ zum Beispiel wurde von Japanologen geprüft, und siehe, im Original wird nicht „gevögelt“. Zwei Menschen „haben Sex“ bzw. „machen Sex“. Die sich dabei einstellende „Hirnerweichung“ ist wohl eher eine Art Besinnungslosigkeit.

„Naokos Lächeln“, das in Japan mehr als vier Millionen Mal verkauft wurde, ist nun von Ursula Gräfe nach dem Original übersetzt worden. Auch Toru Watanabe hat Sex, relativ häufig sogar, und Haruki Murakami erzählt davon diesmal auch in der deutschen Übersetzung, ohne auf umgangssprachliche Formulierungen angewiesen zu sein. Ein Penis ist ein „Penis“, eine Vagina, auch wenn sie „warm und feucht“ ist, einfach nur eine „Vagina“, und der Akt selbst vollzieht sich oft schlicht in einem „Eindringen“.

Der lakonische Ton, mit dem Haruki Murakami und seine Übersetzerin Sex beschreiben, bricht das romantische Pathos von der in alle Ewigkeit verlorenen großen Liebe und auch die nicht weniger romantische Sehnsucht nach dem Tod, die die Figuren in „Naokos Lächeln“ am dunklen Rand des Schattenreichs wandeln lässt: „Diese Melodie macht mich manchmal so traurig“, sagt Naoko über ihr Lieblingslied „Norwegian Wood“, einige Monate vor dem letzten Spaziergang mit Toru: „Ich weiß nicht, warum, aber ich stelle mir vor, ich würde in einem dunklen Wald umherirren . . .“

Naoko begeht schließlich Selbstmord. Einen kleinen Tod gibt es nicht. Die körperliche Liebe, von der Murakami schreibt und die Toru und Naoko „ohne jede traurige Äußerung der Lust“ vollziehen, ist wie die Stille, mit der die Leerrillen die Pausen zwischen den einzelnen Songs einer Schallplatte markieren. Nicht das verknisterten Schweigen des Vinyls natürlich, sondern die vollkommene Stille, die die Tracks einer CD voneinander trennt und in denen man nicht einmal ein Rauschen hört: High Fidelity.

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Einmal hat Haruki Murakami Raymond Carver besucht. Carver hat über diesen Nachmittag ein Gedicht geschrieben. Es beschreibt, wie die beiden Schriftsteller gemeinsam Tee trinken und „voller Rücksichtnahme“ über die Gründe für den Erfolg von Carvers Büchern in Japan reden. Sie schweifen ab, und der amerikanische Schriftsteller versinkt schließlich in einer schmerzhaften Erinnerung. Als er wieder aus ihr auftaucht, gibt es nichts mehr zu sagen. „Im Zimmer heben wir höflich unsere Teetassen. / In jenem Zimmer, in dem einen Augenblick etwas anderes stand.“ Bei Carver ist dieses „etwas andere“ der Schmerz, bei Haruki Murakimi wären es wahrscheinlich ein paar Takte eines alten Songs. Über beides, über den Schmerz und über Melodien, kann man sich schwer austauschen. Jeder Mensch ist eine Welt für sich.

Haruki Murakami: „Naokos Lächeln. Nur eine Liebesgeschichte“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Köln 2001. 430 Seiten, 46 DM

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