IN DER UKRAINE VERLIERT PRÄSIDENT KUTSCHMA AN RÜCKHALT: Kopfloser Machtkampf um kopflose Leiche
Die ukrainische Staatsanwaltschaft ist an Dreistigkeit kaum noch zu überbieten: Nach monatelangen, verschleppten und hintertriebenen Untersuchungen kommt sie endlich zu dem Ergebnis, dass die geköpfte Leiche die des vermissten Journalisten Georgi Gongadse ist. Und das, obwohl ihr Chefermittler noch vor wenigen Tagen das Gerücht kolportierte, eben jener Gongadse spaziere, gesund und munter, durch die westukrainische Stadt Lwiw.
Einmal abgesehen davon, dass die jüngsten Ereignisse erneut ein bezeichnendes Licht auf die Arbeitsweise der Behörde werfen – interessant ist vor allem der plötzliche Sinneswandel: Offensichtlich ist die Erkenntnis gereift, dass die Taktik des Verschleierns doch nicht aufgeht, dass die Hoffnung, das allgemeine Interesse am Fall Gongadse könnte sich legen, obsolet ist.
Von dem Eingeständnis der Staatsanwaltschaft dürften vor allem jene Unermüdlichen profitieren, die seit Monaten in Kiew und anderen ukrainischen Städten für den Rücktritt von Staatspräsident Leonid Kutschma demonstrieren. Wenn die Mächtigen glauben sollten, den Demonstranten würde, flankiert von den üblichen Schikanen und Verhaftungen, demnächst der Atem ausgehen, so werden sie sich täuschen: Die Kritiker werden sich durch das jüngste „Geständnis“ des Staatsanwaltschaft bestätigt sehen und den Druck sogar erhöhen – denn ihre Anhängerschaft dürfte wachsen.
Für Präsident Kutschma wird die Machtbasis merklich instabiler. Jetzt lastet der Verdacht, dass er Gongadse ermorden ließ, erst recht auf dem angeschlagenen Präsidenten. Daran werden seine täglich neuen, perfiden Denunziationen und wüsten Verschwörungstheorien an die Adresse der Demonstranten und westlichen Staaten nichts ändern – ja, diese hilflos wütenden Attacken bestärken den Verdacht noch.
Gleichzeitig lässt die Initiative der Staatsanwaltschaft vermuten, dass intern der Machtkampf tobt. Stand der Amtssessel des Präsidenten bis jetzt noch auf drei Beinen, so ist seit Anfang der Woche die Säge erneut am Werk. BARBARA OERTEL
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