Alles ist Chat

DAS SCHLAGLOCH
von KLAUS KREIMEIER

Fischer, Röhl, Merz, Trittin, Gerhardt, der Mescalero: Jeder chattet in seiner kleinen Nische vor sich hin

„Ein Anschlag weniger auf das politische System als auf das vegetative Nervensystem“ Das „FAZ“-Feuilleton vom 26. 2. 2001 über 1968

Der bei weitem ehrlichste Begriff, den wir den neuen Medientechnologien verdanken, ist das Wörtchen „chat“. Es entstammt der Schwatzsucht im Internet. Einsilbig trocken, aber mit breitem, ordinär gedehntem Vokal klärt es darüber auf, dass Geschwätz unsere tägliche intellektuelle Nahrung ausmacht und als Kitt, der unsere Kultur zusammenhält, nachgerade unersetzliche Dienste leistet. Das war schon immer so. Klatsch und Tratsch bestimmen seit jeher die Nervenstränge der gesellschaftlichen Kommunikation, sie begleiten die Haupt- und Staatsaktionen, die Reichsgründungen und Völkerschlachten, sie bilden den Bodensatz der großen philosophischen Debatten und blühen gerade dann, wenn das Große und Tragische in der Geschichte Raum begehrt und den Interpreten besonders heftig den Kopf verwirrt.

Doch kein Schwätzer von heute redet mehr von Geschwätz. „Chat“ ist angesagt, und wer das Schwatzen wirklich liebt, hat dafür seinen „room“. Der „chat room“ ist die aktuelle Institution, die dank der neuen Kommunikationstechnik jedem Tierchen sein Pläsierchen gönnt und allem, was in den Köpfen webt und wabert, seine kleine, aber exquisite Gummizelle zuweist. Grundehrlich ist das Wort, weil es in die platte Wirklichkeit zurückholt, was sich gern mit den Pfauenfedern des Zeitgeists schmückt und mittlerweile im letzten Provinzfeuilleton als „Diskurs“ sich spreizt.

„Chat“, so könnte man auch sagen, bezeichnet den Zustand des vegetativen Nervensystems einer Gesellschaft, die sich von der bürgerlichen Öffentlichkeit verabschiedet hat. Der Klatsch im Treppenhaus, die ausgiebige Zeitungslektüre und das Geschwätz im Kaffeehaus haben ausgedient – ein neues Medium wird gebraucht, um das Getriebe aus Rachsucht, Ressentiments und Reflexion in Gang zu halten.

Es wäre verwunderlich, wenn die Struktur des Chats nicht in jener Konstruktion wiederzuerkennen wäre, die hochtrabend als „gesellschaftliche Debatte“ gehandelt wird. Das ist jenes Gebräu, das sich als Summe des allgemeinen Gequassels zu einem bestimmten Thema darstellt: der Form nach ein Medienmix, inhaltlich nicht viel mehr als Rauschen. Ein Beispiel dafür war letzthin die Joschka-Fischer-Debatte, vulgo und redlicher auch „Fisherman Chat“ genannt.

Inhaltlich gesehen, galt es, einen Widerspruch zu verarbeiten, der darin besteht, dass ein in seiner politischen Handlungsfähigkeit bemerkenswert eingeschränkter Außenminister dank seines Charismas seit Jahr und Tag den Spitzenplatz in der Hitliste unserer Politiker einnimmt. Wie kommt das? Zu dieser Frage meldeten sich die verschiedensten Stimmen zu Wort – daraus entstanden, wissenschaftlich formuliert, kontroverse Diskurse, doch de facto war alles nur exzessive Chatterei.

Da war zunächst der Diskurs einer einsamen Rachegöttin, Bettina Röhl, die in ihrem Chatroom nicht viele Freunde fand und sogar ihren Verleger vergraulte, bis andere (Magazin-) Verleger sich ihrer (geklauten) Fotos annahmen und auf diese Weise eine Diskussion entfachten, die keine war, weil jeder, der an ihr teilnahm, sich in einer mehr oder weniger gemütlichen Gummizelle wiederfand.

Die kriminologischen Detailforscher suchten herauszufinden, was Fischer in einer womöglich entscheidenden Zehntelsekunde getan oder unterlassen haben mochte, doch sie verhedderten sich in labyrinthischer WG-Archäologie, als es um die Frage ging, ob der spätere Minister vor dreißig Jahren mit einer Terroristin, die noch gar keine war, ganz unvorsichtig ein Frühstück zu sich genommen hatte. Das gab, außer Tatort-Romantik, nicht viel her. Doch gerade die verschlissene Romantik des Sujets löste in den Gehirnschubladen ehemaliger Hausbesetzer erinnerungsselige Chats aus, die sich in die verschiedensten Sendeformate ergossen, bis ihr Charme verbraucht und ihr informationeller Inhalt ausgeleert war.

Gleich nebenan, wenn auch in politischer Feindschaft, etablierte sich der Chat der Ordnungshüter, die sich ihrerseits erinnerten, nämlich an die heile Welt des CDU-Staats, und mit bohrender Insistenz die Frage stellten, ob ein solches Subjekt denn überhaupt Minister sein und, mehr noch, unser Gemeinwesen im Nachbardorf vertreten dürfe. Ihr Chatroom ist, dem Vernehmen nach, noch immer in Betrieb. Symmetrisch zu ihm ist eine besonders wilde Nische angeordnet, die als eine Art Besenkammer der linken Wut funktioniert. Dort nisten jene, die ihre eigene heile Welt – die der revolutionären Unbedingtheit – kultivieren und jemanden, der in die Bedingtheit politischen Handelns aufgebrochen ist und auch den Preis des Scheiterns auf sich nimmt, mit Inbrunst als Aussätzigen behandeln.

Wer von ihnen genug hat, klickt in den Chat der FDP und lässt sich belehren, dass es vor den bösen 68ern die guten, friedlichen 68er gab, deren Chef Wolfgang Gerhardt hieß. Oder er schließt sich dem Club der Altersweisen an, die mild über Jugendsünden philosophieren. Oder dem Verein der Beerdigungsunternehmer, die sich für Historiker halten, indem sie 68 in die Gruft der Geschichte versenken – Moral: alles zu seiner Zeit, Reserve hat Ruh.

„Chat“ ist ein ehrliches Wort: Es holt in die platte Wirklichkeit zurück, was sich sonst als „Diskurs“ spreizt

Ihnen widerspricht ein Chat, der auf Definitionsmacht setzt. Wurde nicht alles von Dunkelmännern angezettelt, die nur die alte Tapete, die alten Werte, die alte gute Stube und den alten Adenauer zurückdefinieren wollen? Meldet sich hier nicht, aus tiefster Verwundung, das alte Regime und bläst zur Gegenreformation? Fragen über Fragen, die höchst unterhaltsam wären, wenn nicht die hitzige Debatte im Nebenraum wäre, in der alles – wie damals und wie schon 1789 oder im alten Rom – um die Gewaltfrage kreist. Gewalt gegen Menschen – oder nur gegen Sachen? Gibt es nicht legitime Gegengewalt – und wie verhält es sich andererseits mit dem staatlichen Gewaltmonopol?

Die Chat-Gesellschaft ist eine partikularisierte Welt. Doch in jedem ihrer Departments sammeln sich Fundamentalisten und fechten alte und neue Scharmützel aus. Das entspricht voll und ganz der Servicekultur des Internets und der angeschlossenen Medien: jedem das Seine, und für jedes Angebot die passende Klientel. Da findet sich sogar etwas für Friedrich Merz: die Entdeckung einer auf sein Image zugeschnittenen, irgendwie wild bewegten und heftig harmlosen Jugendkultur. Und eine überaus angemessene Widerstandsecke für Jürgen Trittin, der sich erst kein Bedauern abringen lässt – dann aber doch. Plötzlich taucht gar „Mescalero“ wieder aus der Versenkung auf, packt alte und neue Texte aus, streut Interviews und lädt zum Mescalero-Chat.

Das vegetative Nervensystem der Gesellschaft, so scheint es, liegt bloß. Man könnte meinen, die halbe Republik sei auf einem Teach-in. Doch zur Besorgnis besteht kein Anlass. Das Nervensystem erweist sich als so stabil wie einst das politische System. Jeder hegt und pflegt sein Gärtchen. Alles ist – Chat.