pampuchs tagebuch: Das Modell La Paz
La Paz, die Hauptstadt Boliviens, gleicht einer riesigen Suppenschüssel von 1.000 Meter Tiefe. Nicht alles in dieser Schüssel ist dabei von erster Qualität, was damit zu tun hat, dass sich Bolivien derzeit in einer wirtschaftlichen Krise befindet.
Eine Ursache dafür ist sicherlich die Tatsache, dass das Land seit drei Jahren von dem inzwischen etwas senil (dafür aber demokratisch) gewordenen Exdiktator der 70er-Jahre, Hugo Banzer, regiert wird. Ein weiteres Problem ist die andauernde Korruption, die Hugo Banzer nicht erfunden hat, die er aber auch nicht zu stoppen in der Lage ist (vielleicht weil es seiner eigenen Familie dabei viel zu gut geht).
Wer sich über die aktuelle Lage in Bolivien informieren will, setzt sich am besten mit Agustin Echalar in Verbindung. Er ist nicht nur einer der bekanntesten Kolumnisten von La Paz, er hat auch eine kleine Reiseagentur (LaPazTours.Zuper.net), für die ich hiermit hemmungslos Werbung mache. Mit Agustin hat man Zugang zu allen wichtigen Leuten von La Paz – oder jedenfalls zu denen, die sich für wichtig halten. Die kennen sich nämlich alle und verbringen einen guten Teil ihrer Zeit damit, gut oder schlecht übereinander zu reden.
Das können sie immer noch ganz ohne Internet, Chatr-Räume und Mailinglisten. Boliviens Mitglieder der Oberschicht sind sehr realitätsfixiert. Der wechselseitige Vorwurf der Korruption ist niemals virtuell, dafür aber überaus hilfreich für das eigene Profil. Manchmal gehen sie einander auch körperlich ans Leder – zurzeit jedenfalls brummt es nur so von Skandalen in La Paz.
So hat ein Minister angeblich seine Frau geschlagen, wollte das mittels Bestechung der Polizei vertuschen und musste deswegen zurücktreten. Nun kämpft er mit allen Mitteln gegen den Pressezar, der ihm die Suppe eingebrockt hat. Es ist eine rechte Freude, bei diesem kathartischen Prozess vermittels gegenseitigen Beschmutzens zuzugucken. Man versteht sofort, wie in unserer fortgeschritteneren virtuellen Welt eine Mailingliste oder ein Diskussionsforum funktioniert.
Das Interessante an Real-Bolivien aber ist, dass bei diesen komplizierten Reinigungszeremonien der jungen bolivianischen Demokratie die Welt nicht mehr abseits stehen muss. Am zweiten Tag meines Besuches machte mich Agustin mit einer feinen Dame der Gesellschaft bekannt, die überdies bis vor einem Jahr die Bürgermeisterin von La Paz war. Wir trafen Lupe Andrade und ihre reizende Tochter Coty (eine der führenden Anwältinnen des Landes) in der „Kuchenstube“, einem deutschen Café mit dicken Torten und schlanken Schweinsohren im Angebot. Lupe Andrade kam gerade frisch aus dem Gefängnis, in dem sie sieben Monate wegen eines Korruptionsfalls gesessen hatte – allerdings ohne verurteilt zu sein, sondern „aus Sicherheitsgründen“. Der Fall (in dem es um überhöhte Zahlungen an eine Firma geht, die das Steuereinzugsverfahren der Stadt computerisieren sollte) ist noch längst nicht abgeschlossen und wird sich wohl noch Jahre hinziehen.
24 Prozent aller in Bolivien Einsitzenden sind nicht verurteilt. Neu am Fall Andrade ist indessen, dass er der wohl am besten dokumentierte Strafprozess im Internet ist. Mit Hilfe ihrer Tochter, (Coty hat in Harvard studiert) und ihres Sohnes, der Computerspezialist ist, hat Dona Lupe eine eigene Website mit Hunderten von Seiten gebastelt (www.lupeandrade.org). Wer will, kann dort den gesamten Fall (in Spanisch oder Englisch – Lupe Andrade lehrt auch englische Literatur) verfolgen, alle Dokumente einsehen und sogar Lupes Tagebuch im Gefängnis lesen. „Jailtime Blues“ heißt es. Mit Hilfe eines Laptops und von Disketten, die ihr ihre Tochter regelmäßig ins Gefängnis brachte, hat die nach eigener Überzeugung unschuldig zum Sündenbock gemachte Exbürgermeisterin damit eine medial absolut zeit- und trendgerechte jailhouse-site geschaffen. Mit ihren case studies liefert sie nicht nur angehenden Juristen von Harvard bis Berlin interessantes Schulungsmaterial, sie is auch für Laien in Korruptionsfragen ein überaus spannendes Dokument.
Die offensichtlich korrupten Richter sind jedenfalls gehörig verärgert. Es brodelt weiter in der Schüssel THOMAS PAMPUCH
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