Flucht aus Borneo

Indonesiens Vizepräsidentin reist endlich nach Borneo, doch die Vertreibung der Maduresen hat längst ein fatales Signal gesetzt

von JUTTA LIETSCH

469 Tote, zehntausende Flüchtlinge: Das war die offizielle Statistik der grausamen Vertreibung der maduresischen Minderheit auf Borneo bis gestern. Doch die Zahl der Toten wird weiter steigen. Denn auf den Straßen, im Dschungel und in den Flüssen der indonesischen Provinz Zentralkalimantan werden täglich neue Opfer gefunden, die den Dayak-Banden nicht entfliehen konnten. Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri besuchte gestern, zwölf Tage nach Beginn der Massaker, Zentralkalimantan. Tags zuvor erließ der örtliche Polizeikommandant Schießbefehl gegen die menschenjagenden Dayak-Banden. Polizisten erschossen fünf Brandstifter und begannen Äxte und Macheten zu konfiszieren.

Nach Gesprächen mit den örtlichen Behörden entschied die Vizepräsidentin gegen die Verhängung des „zivilen Notstands“, einer Art Ausnahmezustand unter zivilem Oberbefehl. Denn als sie in der am schwersten betroffenen Stadt Sampit ankam, war die Situation wieder relativ ruhig, ebenso wie in der Provinzhauptstadt Palangkarya. Dort haben die Dayak ihr Ziel bereits erreicht, die Maduresen zu verjagen. Um ihre Rückkehr zu verhindern, wurden deren Häuser und Geschäfte zerstört.

Die Unfähigkeit der Regierung, die systematische Vertreibung der maduresischen Siedler zu verhindern, wird für ganz Indonesien böse Folgen haben, fürchtet der Soziologe Dede Oetomo: „Jeder, der Unruhe stiften will, weiß jetzt, dass er damit davon kommen kann und wird.“ Für den Regierungskritiker George Aditjondro zeigt die späte und hilflose Reaktion der Politiker in Jakarta, wie schwer das politische Erbe der dreißigjährigen Suharto-Diktatur wiegt, und wie wenig sie aus den Erfahrungen anderer Krisenherde des Landes gelernt haben.

So ist die Polizei, die unter Suharto nur machtloses Anhängsel des Militärs war, inzwischen offiziell von diesem getrennt. Doch mit ihrer neuen Rolle, den Frieden im Land zu bewahren, sind die rund 150.000 Polizisten völlig überfordert. Das zeigte sich nicht nur bei den jüngsten Vorfällen auf Borneo, wo Polizisten unbeteiligt zuschauten oder wegliefen, wenn Dayak-Banden mordeten. Auf der anderen Seite wollten Soldaten nicht eingreifen, weil dies „nicht ihre Aufgabe“ sei. Die Polizei ist nicht nur schlecht ausgebildet und völlig unterbezahlt, sondern auch zutiefst korrupt. So berichteten Flüchtlinge, die in den letzten Tagen aus Sampit nach Java gelangten, dass Polizisten von ihnen eine „Ausreisegebühr“ verlangten, um sie auf die Evakuierungsschiffe zu lassen.

Nichts anderes als Streit um den Flüchtlingen abgepresste Gelder soll hinter einer Schießerei stecken, die sich Polizisten und Soldaten am Dienstag in einem Hafen lieferten. Wie heikel die Beziehungen zwischen Militärs und Polizei sind, zeigt die Ankündigung eines Polizeisprechers, man werde die beiden Kräfte künftig in getrennten Distrikten stationieren.

Auch der Plan von Präsident Abdurrahman Wahid, die Elitetruppe „Kostrad“ nach Borneo zu schicken, ist nicht vielversprechend. Die Erfahrung auf den Molukken, wo sich Christen und Muslime seit über zwei Jahren bekämpfen, zeigt, wie wenig Erfolg eine rein militärische Strategie hat. Aditjondro: „Die Entsendung der Kostrad half nicht, den Brand auf den Molukken zu löschen, sondern fachte die Flammen noch weiter an, weil sie der militärischen Doktrin folgte, soziale Unruhen stets als Verrat zu betrachten und alle Störenfriede als zu vernichtende Staatsfeinde.“ Doch Dayak und Maduresen sind keine Staatsfeinde, sondern Opfer eines Konflikts, der seine Wurzeln in der Konkurrenz um Land und Arbeit und in starken kulturellen Differenzen hat.

Ein weiteres Erbe der Suharto-Ära ist die Blindheit der Zentralregierung für den Zorn in den entlegenen Regionen, die sich sozial und politisch marginalisiert fühlen. Seit Jahren flackert der Konflikt zwischen den Dayak und maduresischen Zuwanderern immer wieder auf. Das war schon zu Zeiten Suhartos so. Doch wegen der Zensur gelangten solche Informationen nur selten nach Jakarta. Deshalb wurden die Politiker dort Opfer der Propaganda, nach der Suharto über ein harmonisches Inselreich herrschte. Journalisten, die von Unzufriedenheit berichteten, drohte Haft wegen „Gefährdung des nationalen Friedens“.