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normalzeitHELMUT HÖGE über Straßenstress

Young Urban Lunatics

In Berlin drehte man schon immer gerne durch. Der größte Durchlaufabkühler heißt hier „Bonnies Ranch“. Wichtig bei hysterischen Umbrüchen und heißen Katastrophen. Zudem waren die jüdisch-bolschewistischen Seelenklempner hier auch immer wieder Anlaufpunkt für Linke, die einen Jagdschein brauchten – Franz Jung beispielsweise. Zuletzt suchten die durchgeknallten 68er und LSD-Freaks vor allem die sympathisierenden Psychiater in der Klinik Havelhöhe auf. Mit der Zeit wurde daraus ein regelrechtes Pflegeheim für sehnsüchtige Systemkritiker – bis der Senat die ganze Einrichtung „umwidmete“.

Mit der Wende – bzw. der Globalisierung – drängten die Irren in das Weichbild der Stadt, allein schon, weil sich dieser Versorgungssektor „verschlankte“ und viele auf die Straße schickte. Auch dieser „Bettenabbau“ gehörte noch zur „Psychiatriereform“, die von links ausging – in Berlin vor allem von der durch Klaus Hartung popularisierten italienischen „Antipsychiatrie“-Bewegung. Aus dem 1995 noch umstrittenen alternativen „Weglaufhaus“ wurde sogar eine von Behörden geschätzte „Anlaufstelle“.

Allein auf der Wiener Straße in Kreuzberg leben inzwischen mindestens vier „Problemfälle“: eine ältere Frau, die geradezu partisanenhaft hart im Nehmen ist; ein vornehmer Afrikaner, der laut vor sich hin schimpft; ein Kurde, der keinen Ton sagt, und ein querulatorischer Sozialhilfeempfänger; der saufreundlich ist. Sie werden von den dortigen Läden und Cafés grundversorgt, bei Herrn Topal im „Anadolu“ können sie sich sogar nützlich machen und fernsehn. Wir Anwohner sind ebenso stolz auf diese kollektive „Betreuung“ von unten wie die Leute in der Oranienstraße, wo es von Irren geradezu wimmelt. Ihr kulturelles Zentrum mit Bier umsonst war dort einmal die Galerie „End-Art“, die einer Drogenfrau sogar eine monatliche Rente zahlte.

In Prenzlauer Berg gibt es inzwischen ganze Straßen, wo von den Vorwendebewohnern nur noch invalide Frührentner übrig geblieben sind, die sich nun langsam totsaufen – angesichts all der lebensfrohen Karnevalisten und Karrieristen um sie herum. Manchmal drehen sie durch und wünschen sich lauthals den Abzug all dieser juvenil-virilen Banden in die Villenviertel. Aber auch in Zehlendorf zum Beispiel haut die Neue Ökonomie ganze Jahrgänge um, wobei aus den Spaßdrogen von der Krummen Lanke langsam ernst wird.

Wenn man Michael Sontheimer, der dort aufgewachsen ist, glauben darf, war das dort schon immer so. Man spricht deswegen auch vom Blutzoll des Standortvorteils. Das ist natürlich sehr protestantisch gedacht. Noch extremer sehen das die Calvinisten: in Holland heißt der Bankrott „Upschooning“ – Reinigung. So sieht man auch in Berlin oftmals den psychischen Zusammenbruch: Er gilt als Schulung. So wie der Knast lange Zeit die Universität der Arbeiterbewegung war, geriet den marxistisch-psychoanalytisch orientierten Existentialisten und dann der Studentenbewegung die Psychiatrie zur echten Kaderschmiede.

Als ich 1969 mit dem Studium begann, wurden die freien Plätze bei den Berliner Psychoanalytikern schon wie Aktien gehandelt. „Aus der Krankheit eine Waffe machen!“, so lautete dafür einst die Formel des „Heidelberger Patientenkollektivs“, das ebenso wie dann auch die „Aktionsanalyse-Kommune“ starke Ausläufer nach Westberlin besaß. Echte Irrenqualitäten besaßen jedoch vor allem die groß gepinselten Paranoia-Parolen des „Sendermanns“. Unvergesslich bleibt seine Sensibilität für Menschenrechtsverletzungen: „Der Senat foltert mit getexteten Reden!“, schrieb er. Seit über zehn Jahren gibt es nun schon den „6“-Maniac, der auf alle möglichen und möglichst ausgefallenen Stadtmöbel seine Sechsen malt, verbunden mit irgendetwas Anzüglichem. Er ersetzt mit seinen Zeichen die alte „Ficken ist gesund“-Frau von der Gedächtniskirche.

Die besten psychosozialen Aktionen stammten ab 1972 jedoch von der Wiener Gruppe „Selbstmörder in Berlin“. Heute gibt es die morbid-existentialistische Oberbaum-Atmo, die dazu gehörte, nicht mehr, obwohl mehr selbstgemordet wird als früher. Die Psychiater haben schon wieder beide Ohren voll zu tun. „Die Sinnlosigkeit hat – speziell bei den Männern – enorm zugenommen“, wie eine Psychologin meinte. Aber das meiste wird jetzt mit Tabletten bekämpft – zumindestens flankierend. Wobei sich die hiesigen Psychiater noch wundern, dass die Amerikaner zum Beispiel weitaus besser auf „Antidepressive“ ansprechen als Deutsche: Dort hat sich bis heute eine Biopolitik von unten gehalten, während es hierzulande nur eine von oben gibt.

Dazu passt, dass man sich jetzt eher für die wenigen irren Gewinner als für die vielen Verlierer interessiert. Beispielsweise für Olympia-Nawrocki, der S-Bahn-Cabrios bauen lassen wollte, Sorat-Garski und Frankfurt-Oder-Pentz, das man nach ihm jetzt Pentzilvania nennt: der eine sammelt Zinnsoldaten, der andere handgeschnitzte Türklinken – in eigens dafür geschaffenen Museen, ferner Pietzsch mit seiner Uecker-Sammlung in seinem Pietzsch-Palais unter den Blinden, Klingbeil mit seinen lebensgroßen nackten Punkerinnen aus Bronze und der größten Ritterrüstungssammlung Europas und Vorderasiens sowie seiner blonden Ehefrau, die sich als größte Wohltäterin der Armen selbst im Fernsehen featured und so weiter.

Hinzu kommen jetzt die Neuen Russen. Der Sowjet-Schriftsteller Soschtschenko meinte einmal, der psychische Apparat der Russen sei anders als der der Mitteleuropäer, deswegen würde dort Freud nicht greifen. Trotzdem oder deswegen drehen viele Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion hier gerne durch. Wladimir Kaminer gibt jedoch zu bedenken, dass es schon in seinem Moskauer Freundeskreis niemanden gegeben habe, der nicht wenigstens einmal in der Klapse war. Wobei sich anscheinend mit dem Zerfall der Sowjetunion in den Achtzigern äußerer Zwang zu innerer Notwendigkeit wandelte und Drogenexperimente dazukamen. Hier macht auch viele – insbesondere der ukrainischen Frauen – die tägliche Kleinarbeit in den Bordellen schier verrückt. Es gibt in Kiew bereits ganze „Frauenprojekte“, die sich diesen traurigen Heimkehrerinnen widmen. So wie es einmal im Urban-Krankenhaus eine spezielle Therapiegruppe für Indienreisende gab, die nach ihrer Heimkehr hier reihenweise durchgeknallt waren.

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